Essay

Zur Rhetorik der visuellen Kommunikation

Plädoyer für einen historischen Zugang

Von Arne Scheuermann


Wenn wir nach der Rhe­to­rik der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on fra­gen, müs­sen wir ver­schie­de­ne Zugän­ge unterscheiden:

a) Wo spricht die klas­si­sche Rhe­to­rik bereits vom Visuellen?
– Wel­che Rol­le spie­len bei­spiels­wei­se Bil­der in der Kunst der Ein­prä­gung (memo­ria)?

b) Wie sehen his­to­ri­sche Posi­tio­nen einer visu­el­len Rhe­to­rik aus?
– Wie ver­han­deln die anti­ken Kunst­theo­rien (téch­ne) die visu­el­le Kommunikation?
– Was schrei­ben Autoren der frü­hen Neu­zeit wie Alber­ti bereits zur Rhe­to­rik des Bildes?

c) Wie lässt sich die (nicht-visu­el­le) Rhe­to­rik auf die visu­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on übertragen?
– Lässt sich eine Figu­ren­leh­re (elo­cu­tio) für die visu­el­le Kom­mu­ni­ka­ti­on finden?

Vie­le Arbei­ten zur visu­el­len Rhe­to­rik ste­hen in der Tra­di­ti­on von Bon­sie­pes ers­ten Ana­ly­sen Mit­te der 1960er Jah­re: Sie unter­neh­men den drit­ten Schritt ohne die ers­ten bei­den Schrit­te gegan­gen zu sein. Auf die­se Wei­se stel­len Autoren wie Ehses und Lehn zwar durch­dach­te und durch­aus anwend­ba­re Pro­gram­me zur visu­el­len Figu­ren­leh­re vor – in der Regel am Bei­spiel von Wer­be­an­zei­gen –, ver­pas­sen jedoch, das Erfah­rungs­wis­sen frü­he­rer Kon­zep­tio­nen mit­zu­den­ken. Aus mei­ner Sicht tut es des­halb Not, in den nächs­ten For­schungs­ar­bei­ten sol­che noch nicht offen geleg­ten his­to­ri­schen Zusam­men­hän­ge aufzudecken.

Über den Rah­men einer sol­chen Erkun­dung habe ich an ande­rer Stel­le[1] bereits fol­gen­des festgehalten:

Die klas­si­sche Rhe­to­rik stand für mehr als 2000 Jah­re im Kern des wis­sen­schaft­li­chen Kanons in der west­li­chen Welt. Die in ihr ver­sam­mel­ten Teil­wis­sen­schaf­ten ver­han­deln die Pro­duk­ti­on und Ästhe­tik von Tex­ten, Bil­dern, Musik und Archi­tek­tur. Der Groß­teil der uns bekann­ten Kunst­wer­ke vor 1800, ins­be­son­de­re aber Auf­trags­kunst (also Design avant la lett­re) wie die Aus­ma­lung der Six­ti­ni­schen Kapel­le oder die Kan­ta­ten Johann Sebas­ti­an Bachs sind (auch) nach rhe­to­ri­schen Regeln ver­fasst.  Doch die Rhe­to­rik stirbt, bevor sie eine moder­ne wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­plin wer­den kann: Als um 1800 die idea­lis­ti­sche Ästhe­tik ihren Sie­ges­zug antritt, wen­det sich die west­li­che Kul­tur von den Lehr- und Regel­wer­ken der Rhe­to­rik ab – und damit von ihrer mehr als 2000-jäh­ri­gen Pra­xis. Man will sich befrei­en von den all­zu star­ren Anwei­sungs­äs­the­ti­ken und Figu­ren­bü­chern, man will unge­bun­den und dem eige­nen Geni­us ver­pflich­tet Kunst trei­ben. Im Über­schwang die­ses Befrei­ungs­schla­ges ver­schwin­det das Fach­wis­sen der Rhe­to­rik von den Lehr­plä­nen und aus dem geis­ti­gen Leben Mit­tel­eu­ro­pas für etwas mehr als 150 Jah­re. Der Begriff »Rhe­to­rik« ver­liert sei­ne wis­sen­schaft­li­che Bedeu­tung und ver­küm­mert zu einem all­tags­sprach­li­chen Schimpf­wort, mit dem man unlau­te­re »Über­re­dung« meint. Erst Mit­te des 20. Jahr­hun­derts erwacht das Inter­es­se an der Rhe­to­rik von neu­em. Nun aller­dings steht nicht mehr die Pro­duk­ti­on, son­dern die Ana­ly­se von Medi­en im Zen­trum des Inter­es­ses. Die Rhe­to­rik wird im fol­gen­den des­halb auch nicht mehr als leben­di­ges Regel­wis­sen gelehrt, son­dern als Ana­ly­se­werk­zeug. Sie ist nun aka­de­mi­siert, hat aber an Brei­te und Umfang erheb­lich verloren.

Die »Geburt des Designs« in sei­ner heu­ti­gen Kon­zep­ti­on fällt in die oben genann­ten 150 Jah­re, also in eine Pha­se der Geschich­te, in der die Rhe­to­rik als Pro­duk­ti­ons- und Anwei­sungs­äs­the­tik kei­ne gro­ße Rol­le mehr spielt. Die Indus­tria­li­sie­rung und das Auf­kom­men der Mas­sen­fer­ti­gung, die Debat­te um die »gute Form«, die ers­ten Ver­su­che am Bau­haus und spä­ter an der Hoch­schu­le für Gestal­tung Ulm die Gestal­tung zu ver­wis­sen­schaft­li­chen –  alle die­se Land­mar­ken der neue­ren Design­ge­schich­te fin­den in einem Umfeld statt, das die Rhe­to­rik schlicht­weg nicht gut genug kennt, um dem Design einen gesamt­haft rhe­to­ri­schen Cha­rak­ter zu attes­tie­ren. Die ers­ten rele­van­ten Ver­su­che, über die Rhe­to­rik des Designs zu spre­chen – wie der von Gui Bon­sie­pe Mit­te der 1960er Jah­re an der Hoch­schu­le für Gestal­tung Ulm – neh­men dann auch den Umweg über die Figu­ren­leh­re, einen heu­te aus­schließ­lich ana­ly­tisch genutz­ten Teil­be­reich der Rhe­to­rik, und es dau­ert bis zu den 1980er Jah­ren, dass Autoren wie bei­spiels­wei­se Richard Buchanan es wagen, Design selbst rhe­to­risch zu nen­nen und auf die all­ge­mei­nen Ähn­lich­kei­ten zwi­schen Design und Rhe­to­rik hin­zu­wei­sen. Gleich­zei­tig erwa­chen auch in der Kunst­ge­schich­te das Bewusst­sein von der Rhe­to­rik his­to­ri­scher Bil­der, in der Musik­theo­rie das Inter­es­se an den rhe­to­ri­schen Regeln der Barock­mu­sik und in der Archi­tek­tur­theo­rie das Bedürf­nis der Rück­bin­dung neue­re Theo­rien an rhe­to­ri­sche Architekturtraktate.

Vor die­sem Hin­ter­grund leuch­tet ein, dass eine Rhe­to­rik der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht am Begriff des Designs fest­ge­macht wer­den darf, son­dern sich der ande­ren Dis­zi­pli­nen und Gat­tun­gen bedie­nen muss, in denen visu­ell kom­mu­ni­ziert wur­de und wird: Wand­bild, Kir­chen­fens­ter, Altar­bild, Tep­pich­ge­stal­tung, Tafel­bild, Büh­nen­bild, Buch­druck, Gra­fik usw. Erst wenn wir die Geburts­stun­de des Gra­fik­de­signs nicht mehr an das Auf­kom­men der gedruck­ten Gra­fik, die Litho­gra­fie oder die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der Pla­kat­ge­stal­ter knüp­fen, son­dern wei­ter zurück­ver­fol­gen, kön­nen wir in den Vor­stu­fen und Pro­to­theo­rien der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on, in ihren Erzeug­nis­sen und Arte­fak­ten, in ihren Prak­ti­ken und Poe­ti­ken fün­dig wer­den und die Spu­ren einer seit der frü­hen Neu­zeit umfas­send wirk­sa­men Rhe­to­rik auf­fin­den und für die heu­ti­ge Theo­rie­bil­dung frucht­bar machen.