Essay

Das Sehen des Horizontes

Über das Versöhnliche ungeahnter Perspektiven

Von Brigitte Wormbs


Er ist da und doch nicht da. Er ist nicht zu fas­sen, aber in wech­seln­den Kon­tu­ren all­ge­gen­wär­tig; mal näher, mal wei­ter ent­fernt, mal mehr, mal weni­ger deut­lich zu sehen, im Son­nen­schein klar umris­sen oder von Regen­schau­ern  verwischt.

Eben noch ver­fing sich der Blick von der Anhö­he in den nahen Baum­kro­nen, die mit bizar­rem Geäst in tief hän­gen­de Nebel­schwa­den sta­chen. Wenig spä­ter hat sich der Vor­hang vor einer weit­räu­mi­gen Gegend geho­ben. Die geschwun­ge­ne Kamm­li­nie einer Hügel­ket­te grenzt die sicht­ba­re Erd­ober­flä­che gegen den leicht ver­schlei­er­ten Him­mel ab. Davor Wie­sen von blas­sem Gelb­grün, Fel­der wie däm­mern­de Mat­ten, ver­streu­te, teils inein­an­der über­ge­hen­de Ort­schaf­ten, raum­grei­fen­de Anhäu­fun­gen von schach­tel­för­mi­gen Gewer­be­bau­ten, dazwi­schen Stra­ßen, Schie­nen, Über­land­lei­tun­gen, hier und da ein blit­zen­der Reflex, Wäl­der in viel­fäl­tig getön­tem Blau, der Fluss wie ein sil­bern Band.

Die zusam­men­ge­wür­fel­te Gegen­stands­welt, das  Neben- und Durch­ein­an­der ihrer hete­ro­ge­nen Bestand­tei­le wird gewis­ser­ma­ßen ver­söhn­lich umrahmt von einem Hori­zont, der die­ser Gegend schein­bar zeit­lo­ses Pro­fil gibt. Man könn­te deren Anblick auf sich beru­hen las­sen, hät­te er sich nicht plötz­lich schon wie­der verändert.

Zeig­te sich ver­ein­zelt über die Kamm­li­nie Hin­aus­ra­gen­des – Kirch­tür­me, Strom­mas­ten, Hoch­re­gal­la­ger, Silo­tür­me – noch erkenn­bar mit dem Hügel­rü­cken ver­bun­den, so ist jetzt unter jäh auf­ge­ris­se­nem Him­mel eine fer­ne­re Fer­ne über­gangs­los ein­ge­drun­gen. Über allem, was sich zum Gesamt­ein­druck der Gegend zusam­men­ge­schlos­sen hat­te, erschei­nen nun, abge­ho­ben in unwirk­li­cher Schwe­be, die schnee­be­deck­ten Gip­fel des Hoch­ge­bir­ges, unbe­greif­lich nah und ent­rückt zugleich. Blen­dend weiß reflek­tie­ren die zer­klüf­te­ten Berg­flan­ken das Son­nen­licht. Die vom Föhn scharf in den Him­mel gezeich­ne­ten Kon­tu­ren der Gip­fel­ket­te set­zen dem Blick von neu­em eine Gren­ze. Die­se Trenn­li­nie zwi­schen Him­mel und Erde scheint jedoch weni­ger das im Vor­der­grund aus­ge­brei­te­te Hügel­land abzu­schlie­ßen als viel­mehr eine ganz ande­re Welt zu eröff­nen. Etwas Her­aus­for­dern­des geht von ihr aus. Lockt doch zum einen die Gefahr, sich ele­men­ta­rer Natur­ge­walt aus­zu­set­zen, zum ande­ren die Ver­hei­ßung, Frei­heit der Bewe­gung und des Blicks zu genie­ßen. Die Lust, vom Berg zu schau­en hat indes ihre Geschich­te. Sie setzt nicht nur topo­gra­phisch erheb­li­chen Abstand zum All­tag mit sei­nen Lebens­not­wen­dig­kei­ten voraus.