Mit Aris­to­te­les betre­ten wir wie­der auch rhe­to­ri­schen Boden – der war aller­dings gut vor­be­rei­tet. Er konn­te auf Gedan­ken­ent­wick­lun­gen zurück­grei­fen, die sich außer bei Prot­agoras (den ich hin­rei­chend gewür­digt habe) auch bei ande­ren, etwa Gor­gi­as und Anti­phon fin­den, welch letz­te­rer in Korinth eine Art Pra­xis unter­hielt, in der er die an Sor­gen und Ängs­ten Lei­den­den durch trös­ten­de Rede zu hei­len ver­sprach. Gor­gi­as’ Per­spek­ti­ve ist gar nicht so fern davon, in ihr mag der Ein­fluss eines Bru­ders, der Arzt war, ihre Spu­ren hin­ter­las­sen haben. Zu ihrer Erhel­lung wäh­le ich eine Stel­le aus der berühm­ten Rede zur Ver­tei­di­gung der Hele­na, die er wohl vor 415 v. Chr. gehal­ten und die mit dazu bei­getra­gen hat, ihn zum Begrün­der der epi­deik­ti­schen Bered­sam­keit zu machen. »Im sel­ben Ver­hält­nis«, so dekre­tiert er, »steht die Wirk­kraft der Rede zur Ord­nung der See­le wie das Arran­ge­ment von Dro­gen zur kör­per­li­chen Kon­sti­tu­ti­on: Denn wie ande­re Dro­gen ande­re Säf­te aus dem Kör­per aus­trei­ben, und die einen Krank­heit, die ande­ren aber das Leben been­den, so auch erre­gen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuß, und drit­te Furcht, und wie­der ande­re ver­set­zen die Hörer in zuver­sicht­li­che Stim­mung, und noch ande­re berau­schen und bezau­bern die See­le mit einer üblen Bekeh­rung. Daß sie (Hele­na) mit­hin, wenn sie durch Reden bekehrt wur­de, kein Unrecht tat, son­dern ins Unglück geriet, ist so ausgesprochen.«

Das ist natür­lich eine zwei­deu­ti­ge Instru­men­ta­li­sie­rung, die vom Raub der Affek­te spricht, um von Ver­ant­wor­tung los­zu­spre­chen, und wird spä­ter Pla­ton gera­de recht kom­men. Für uns ist der Ver­gleich lehr­reich und durch­aus nicht dis­kri­mi­nie­rend. Er ver­weist auf den Zusam­men­hang von medi­zi­ni­scher und rhe­to­ri­scher Affek­ten­leh­re, der sich nie ganz gelöst hat und heu­te etwa in der Koope­ra­ti­on mit emo­ti­ons-psy­cho­lo­gi­schen Kon­zep­ten eine Art von Fort­set­zung fin­det. Hip­po­kra­tes ist von medi­zi­ni­scher Sei­te ihr bedeu­tends­ter Ahn­va­ter. Auch im Zen­trum sei­nes Inter­es­ses stand der Zusam­men­hang von ratio­na­len und affek­ti­schen Ver­mö­gen, unter­schied er doch eine gesun­de, die Erkennt­nis des Schö­nen und Häss­li­chen, Guten und Bösen, Ange­neh­men und Unan­ge­neh­men för­dern­de und eine krank­haf­te, erkennt­nis­hem­men­de Betä­ti­gung der Affek­te. Bei­des erklärt er als Fol­ge eines bestimm­ten Feuch­tig­keits- und Wär­me­grads des Gehirns, der sich durch medi­zi­ni­sche Mit­tel beein­flus­sen läßt.

Es liegt auf der Hand, dass für die Rhe­to­rik der­ar­ti­ge Zugrif­fe von prak­ti­scher Bedeu­tung sind, und sie mach­te sich daher auch die the­ra­peu­ti­sche Kraft der Affekt­be­ein­flus­sung zunut­ze, indem sie der affekt­er­re­gen­den Rede nun die glei­che Wirk­sam­keit zuschrieb, wie die Heil­mit­tel sie für den Kör­per ent­fal­ten. Dabei braucht uns die über­hol­te Begrün­dung in der Säf­te­leh­re nicht zu irri­tie­ren, das bis heu­te gül­ti­ge Ergeb­nis der Erfah­rung ist ent­schei­dend, dass emo­tio­na­le Gestimmt­heit und Erkennt­nis – modern for­mu­liert: Erkennt­nis und Inter­es­se – in einer offen­bar anthro­po­lo­gisch fun­dier­ten engen Bezie­hung ste­hen. Lykur­gos, ein Red­ner des 4. Jahr­hun­derts v. Chr. In Athen, rät in der ein­zi­gen erhal­te­nen sei­ner 15 Gerichts­re­den, die natür­li­che Gefühls­la­ge der Rich­ter zu »éle­os«, also zur Rüh­rung, zum Mit­leid viel­leicht sogar, zu stei­gern, um sie bes­ser zu über­zeu­gen. Aris­to­te­les wird die­sem Wech­sel­ver­hält­nis dann sei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit zuwen­den. Den Anstoß gibt auch für ihn die Erfah­rung, dass die emo­tio­na­le Ver­fas­sung der Adres­sa­ten für die Über­zeu­gungs­kraft der Rede kei­nes­wegs gleich­gül­tig ist. Gleich zu Anfang des 2. Buches sei­ner auf Vor­le­sun­gen basie­ren­den »Rhe­to­rik«, in der er sei­ne rhe­to­ri­sche Affek­ten­leh­re for­mu­liert, umreißt er ein­dring­lich das Kern­pro­blem, ich zitie­re die Stel­le daher unge­kürzt: »Denn im Hin­blick auf die Glaub­wür­dig­keit macht es viel aus – beson­ders bei den Bera­tun­gen und schließ­lich vor Gericht –, dass der Red­ner in einer bestimm­ten Ver­fas­sung erschei­ne und dass die Zuhö­rer anneh­men, er selbst sei in einer bestimm­ten Wei­se gegen sie dis­po­niert, und schließ­lich, ob auch die­se sich in einer bestimm­ten Dis­po­si­ti­on befin­den. Daß der Red­ner näm­lich in einer bestimm­ten Ver­fas­sung erschei­ne, ist beson­ders nütz­lich bei der Bera­tung, und dass der Hörer in einer bestimm­ten Wei­se dis­po­niert sei, ist vor­teil­haf­ter bei Gerichts­ver­hand­lun­gen; denn ein und das­sel­be erscheint nicht in glei­cher Wei­se den Lie­ben­den und Has­sen­den bzw. den Zor­ni­gen und denen in sanf­ter Gemüts­la­ge, son­dern die Ansich­ten sind ent­we­der ganz und gar oder hin­sicht­lich ihrer Gewich­tig­keit ver­schie­den: dem Lie­ben­den näm­lich erscheint der, über den er ein Urteil zu fäl­len hat, ent­we­der gar nicht schuld­haft oder nur in gerin­gem Maße, dem Has­sen­den dage­gen umge­kehrt. Eben­so erscheint dem­je­ni­gen, der von Ver­lan­gen und Hoff­nung erfüllt ist, das, was kom­men soll, sofern es ange­nehm ist, als etwas, das wirk­lich kommt, und als etwas Gutes; bei dem aber, der gleich­gül­tig und in ver­drieß­li­cher Stim­mung ist, ist das Gegen­teil der Fall.«

Damit wir die­se Schluss­fol­ge­run­gen in ihrer Bedeu­tung auch ein­se­hen, müs­sen wir uns dar­an erin­nern, dass die Rhe­to­rik es immer mit kon­kur­rie­ren­den Stand­punk­ten zu tun hat, mit grund­sätz­lich gleich­be­rech­tig­ten Mei­nun­gen, und dass in die­se bereits Gefühls­grün­de ein­ge­gan­gen sind, noch bevor eine strit­ti­ge Deu­tung des Sach­ver­halts wirk­lich auf der Tages­ord­nung steht. Ver­nach­läs­sigt man die­se bereits vor­han­de­nen affek­ti­ven Stel­lung­nah­men, ist die Per­sua­si­on von Anfang an gefähr­det. Das sind ganz rede­prak­ti­sche, der mensch­li­chen Natur aber ent­spre­chen­de Über­le­gun­gen, die Aris­to­te­les auch in der »Niko­ma­chi­schen Ethik« anstellt: »Rede und Beleh­rung«, heißt es dort über die Erzie­hung zur Tugend, »wer­den wohl nicht bei allen Men­schen (wunsch­ge­mäß) wir­ken, son­dern zuvor muß die See­le durch Gewöh­nung bear­bei­tet wer­den, daß sie sich in rech­ter Wei­se freut und hasst, so wie man die Erde bear­bei­tet, die den Samen pfle­gen soll.« Im übri­gen tadelt der Autor der »Ethik« sowohl Über­maß wie Man­gel an affek­ti­scher Sti­mu­lie­rung, heißt sie aber gut, wenn man weiß, »was man soll und wobei man es soll und wem gegen­über und wozu und wie, das ist die Mit­te und das Bes­te …« Wie neben­bei erscheint bei die­ser Aus­ta­rie­rung des rech­ten, näm­lich mitt­le­ren Affekt­ma­ßes ein klei­ner Kata­log von Topoi in Fra­ge­form und weist hin­über zur rhe­to­ri­schen Beglaubigung.

Im Kon­text die­ser Erör­te­run­gen bleibt die Stel­lung der Affek­te zum Logos aller­dings nicht ein­deu­tig. Ein­mal scheint es so, als ob Aris­to­te­les den rein argu­men­ta­ti­ven Begrün­dungs­ver­fah­ren die Prio­ri­tät zuer­kennt, mit ande­ren Wor­ten: im Enthy­mem, dem rhe­to­risch-ratio­na­len Schluss­ver­fah­ren, die »Grund­la­ge der Über­zeu­gung« sieht und affek­ti­sche Mit­tel für frag­wür­dig und nur dem unge­bil­de­ten Publi­kum geschul­det erklärt; ande­rer­seits wie­der­um, wir hör­ten die Sät­ze, den affek­ti­schen Dis­po­si­tio­nen eine ent­schei­den­de Rol­le bei der Über­zeu­gung einräumt.