Die Annahme, das Visuelle besitze argumentative Kraft, setzt voraus, dass Argumente nicht an Verbalsprache gebunden sind. Ihre Aufgabe besteht darin, den Rezipienten zu überzeugen und in ihm eine Wirkung hervorzurufen. Im Sinne des Sprachphilosophen Andreas Hetzel entfalten Argumente ihre Wirkung, indem sie über sich hinausweisen.[8] Dieses Über-Sich-Hinausweisen ist nicht nur sprachlichen Argumenten zu eigen, so meine These, sondern ist auch dem Visuellen eingeschrieben.
Friedrich bezeichnet hingegen in Anlehnung an einen traditionellen Logikbegriff Argumente als »verbalsprachliche Konstrukte, die grammatisch formuliert sind«[9]. Da das Visuelle eben diese Struktur nicht besitzt, kann es daher auch keine Argumente formulieren. Sprachliche Argumente folgen für ihn einem rationalen Denken, »die jenseits des logisch Entscheidbaren die vernünftige, folgerichtige Formulierung von Überzeugungen gestatten und einen abwägenden Diskurs erlauben, also an den Logos appellieren«[10]. Da für den Herausgeber das Visuelle keine eigene, spezifische Logik besitzt, kann es auch nicht an den Logos appellieren, wohl aber an Ethos und Pathos. Argumente zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie »Ansprüche auf Geltung und hin und wieder auch auf ›Wahrheit‹«[11] erheben. Dies spricht er dem Visuellen ab. Stattdessen kann diesem Bedeutung beigemessen werden. Diese erhält das Visuelle über einen Deutungsvorgang. Zumindest intersubjektiv ist dieser Prozess an Sprache gebunden. Daher kommt Friedrich zu dem Schluss, dass das Visuelle alleine keine Argumente schafft, aber in Verbindung mit der Sprache Argumente stützen kann.[12]
Welche Funktion kommt dem Visuellen nun innerhalb einer Argumentation zu? Für Friedrich erheben Argumente im »idealtypischen Diskurs«[13] Anspruch auf Geltung, indem sie klar, deutlich und verständlich formuliert sind. Dies bedeutet: Sie erschließen sich auch ohne Deutung. Das Visuelle hingegen ist für ihn dadurch ausgezeichnet, dass es einen Interpretationsraum eröffnet. Aufgrund eines von dem Autor diagnostizierten Wandels in unserer Diskurskultur ergänzen »visuelle Äußerungen«[14] sprachliche Argumente. Deren stilistische Funktion liegt darin, die Klarheit eines Argumentes zu verstärken, indem sprachlich Eindeutiges und visuell Mehrdeutiges miteinander in Wechselwirkung treten. Die für überzeugende Argumente nötige stilistische Anforderung ist laut Friedrich die der Evidenz, für sprachliche Argumente die oben erwähnte Klarheit und Deutlichkeit. Die visuelle Evidenz bildet das Anschauliche, das über seine Unmittelbarkeit sprachliche Argumente verstärken kann. Dies bedeutet, wenn Visuelles und Sprachliches sich erfolgreich aufeinander beziehen, wird eine Argumentation verständlicher, »sie wirkt unmittelbarer und verdichtet«[15].
Der Stellenwert visueller Evidenz kann aber auch anders bemessen werden. Positionen, die dem Visuellen selbst argumentativen Charakter zuschreiben, machen eben diese Evidenz für die Argumentation über das Visuelle stark. An die Stelle sprachlich-argumentativer Geltung setzen sie das plötzliche, »›augen-blickliche[]‹ Sehen[]«[16]. Dieser Ereignischarakter bildet laut Heßler und Mersch die spezifische Erkenntnisform des Visuellen. »Visuelle Medien sind daher in erster Linie durch Evidenzeffekte gekennzeichnet, diskursive Medien durch Wahrheitseffekte«[17]. Diese Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit des Visuellen hängt mit der »medialen Form des Zeigens«[18] zusammen: »Evidenz gibt es nur als Absolutheit – entweder ist etwas einleuchtend oder nicht«[19].
- [8] vgl. Hetzel, Andreas: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie. Bielefeld 2011. S. 48.
- [9] Friedrich, a. a. O.
- [10] ebd.
- [11] ebd.
- [12] vgl. ebd.
- [13] ebd.
- [14] ebd.
- [15] ebd.
- [16] Heßler; Mersch, a. a. O., S. 29.
- [17] ebd.
- [18] ebd. (Hervorhebung im Original).
- [19] ebd.