Buchbesprechung

»Computerspiel als eigenständiges Phänomen«

Hans-Joachim Backe schafft ein grundlegendes Verständnis

Eine Rezension von Michael Ingino


Hans-Joa­chim Backe ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler an der Ruhr-Uni­ver­si­tät Bochum mit dem Lehr­stuhl für all­ge­mei­ne und ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft. In sei­nem Buch »Struk­tu­ren und Funk­tio­nen des Erzäh­lens im Com­pu­ter­spiel« unter­sucht Backe, wel­ches nar­ra­ti­ve Poten­zi­al in der Ver­schmel­zung von Erzäh­lung und Spiel steckt, da eini­ge Com­pu­ter­spie­le kom­ple­xe Hand­lungs­ab­läu­fe beinhal­ten. Seit eini­gen Jah­ren wird der For­schungs­zweig »Game Stu­dies« in der angel­säch­si­schen Lite­ra­tur- und Medi­en­wis­sen­schaft ver­stärkt abge­han­delt. Im deutsch­spra­chi­gen Raum besteht nur gering­fü­gig wis­sen­schaft­li­ches Inter­es­se. Auch Ver­öf­fent­li­chun­gen neh­men kaum Bezug auf­ein­an­der. Hin­sicht­lich einer Com­pu­ter­spiel­theo­rie leis­tet der Autor somit Grund­la­gen­for­schung. »Erst nach über zehn Jah­ren inten­si­ver For­schung beginnt sich zur­zeit ein Fach­pro­fil her­aus­zu­bil­den […] um zu einer sys­te­ma­ti­schen Beschrei­bung des Erzäh­lens im Com­pu­ter­spiel als eigen­stän­di­gem Phä­no­men zu gelan­gen.« (S. 14)

Die Com­pu­ter­spiel­theo­rie teilt das Medi­um in zwei gegen­sätz­li­che Lager: Nar­ra­to­lo­gen, Anhän­ger der Erzähl­theo­rie, und Ludo­lo­gen, Ver­tre­ter der Spiel­theo­rie. Nar­ra­to­lo­gen sehen im Com­pu­ter­spiel eine Art vor­de­fi­nier­ten Text, des­sen Erzähl­struk­tur die Kon­struk­ti­on von Sinn ermög­licht. Laut Backe kön­nen Text­pas­sa­gen Ori­en­tie­rungs­punk­te inner­halb der Hand­lung bie­ten, kom­men jedoch zu kei­nem Zeit­punkt davon los­ge­löst zum Ein­satz. Ent­ge­gen der klas­si­schen Erzähl­theo­rie soll­te der nar­ra­to­lo­gi­sche Ansatz im Hin­blick auf die Dar­stel­lungs­form des Medi­ums Com­pu­ter­spiel betrach­tet werden.

Für Ludo­lo­gen stellt das Com­pu­ter­spiel die Simu­la­ti­on rea­ler Hand­lung dar, die auf vor­de­fi­nier­ten Regeln basiert. Backe ver­weist auf die deut­li­chen Par­al­le­len zur klas­si­schen Spiel­theo­rie von Roger Cail­lois, die sechs fun­da­men­ta­le Regeln eines Spiels defi­niert. Über­tra­gen auf den Ein­satz­be­reich der Com­pu­ter­spiel­theo­rie unter­schei­det Backe in drei Per­spek­ti­ven: die Defi­ni­ti­on und Ent­wick­lung einer Umge­bung inner­halb des Spiels, die Nut­zungs­art des Spiels sowie die Funk­ti­on des Spielers.

Dar­auf­hin erstellt Backe eine Sys­te­ma­tik, die unter Ein­be­zug der Erzähl- und Spiel­theo­rie zwi­schen den For­schungs­per­spek­ti­ven Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, dem »Erzäh­len«, und Game­stu­dies, dem »Spie­len«, ver­mit­teln soll. Um mög­li­che erzäh­le­ri­sche Ele­men­te von unter­schied­li­chen Spie­len ana­ly­sie­ren zu kön­nen, unter­sucht Backe For­men von Nar­ra­ti­on und Struk­tur. Spiel­ab­läu­fe las­sen sich in ludo­lo­gi­sche Spiel­zie­le und nar­ra­to­lo­gi­sche Hand­lungs­strän­ge dif­fe­ren­zie­ren. Der Autor führt nun den ver­söhn­li­chen Über­be­griff »Nar­ra­ti­ve Gam­ing Stu­dies« ein, um ludo­lo­gi­sche und nar­ra­to­lo­gi­sche Ansät­ze zu ver­ei­nen.
 »Des­halb wer­de ich im Fol­gen­den von Gen­re­be­grif­fen abhän­gi­ge Bestim­mun­gen des nar­ra­ti­ven Poten­ti­als von Com­pu­ter­spie­len ent­wi­ckeln. […] Aus der Sys­te­ma­ti­sie­rung die­ser Fak­to­ren las­sen sich Rück­schlüs­se gewin­nen, die eine Unter­schei­dung nach dem nar­ra­ti­ven Poten­ti­al von Com­pu­ter­spie­len über Gat­tungs­gren­zen hin­weg ermög­li­chen.« (S. 54 f.)

Anhand zahl­rei­cher Com­pu­ter­spie­le ver­deut­licht Backe nar­ra­ti­ve Inhal­te, nennt jedoch kei­ne Beweg­grün­de bezüg­lich der Spiel­aus­wahl. Er stellt nar­ra­ti­ve Unter­schie­de bei Ein­zel­spie­ler- und Mehr­spie­ler­pro­gram­men fest. Im Ein­zel­spie­ler­mo­dus ist die nar­ra­ti­ve Ebe­ne als struk­tu­rier­te Dra­ma­tur­gie aus Ein­lei­tung, Höhe­punkt und Schluss deut­lich her­vor­ge­ho­ben. Auch der Mehr­spie­ler­ti­tel »World Of War­craft« weist nar­ra­ti­ves Poten­ti­al auf, aber »unter­schei­det sich von die­ser Rezep­ti­ons­si­tua­ti­on deut­lich und wür­de eine gan­ze Rei­he zusätz­li­cher Fra­gen auf­wer­fen« (S. 91).

Im Anschluss an die aus­führ­li­che Obser­va­ti­on ent­steht nun die Blau­pau­se von Backes 3-Pha­sen Struk­tur­mo­dell, dem »Spiel­erzäh­len«. Die­ses unter­schei­det sich in Sub­struk­tur, Mikro­struk­tur und Makro­struk­tur. Die Sub­struk­tur defi­niert den Zusam­men­halt des Com­pu­ter­spiels hin­sicht­lich des fest­ge­setz­ten Spiel­ver­laufs und der mög­li­chen Beein­flus­sung des Spie­lers. Die Mikro­struk­tur spie­gelt die Tie­fe in Form der Spiel­auf­ga­be oder Her­aus­for­de­rung wider. Die Makro­struk­tur bestimmt die Ober­flä­che in Zusam­men­hang mit Spiel­welt und Geschich­te und stützt dadurch den erzäh­le­ri­schen Zusam­men­halt der Spiel­mis­si­on. Als Ergeb­nis der Stu­die wird fest­ge­stellt, dass bei einer Sys­te­ma­tik zur Ein­tei­lung von Com­pu­ter­spie­len die Makro­struk­tur aus­schlag­ge­bend ist. Die­se schafft Zusam­men­hang, indem der fest­ge­setz­te Rah­men als nar­ra­ti­ve Spiel­an­lei­tung kom­mu­ni­ziert wird. Zusätz­lich bleibt die Makro­struk­tur wäh­rend des Spiel­ver­laufs wan­del­bar, da das Spie­ler­ver­hal­ten Ein­fluss auf die Nar­ra­ti­on nimmt. Die Ver­än­de­rung der Sub-, Mikro- und Makro­struk­tur durch das nar­ra­ti­ve Ein­wir­ken des Com­pu­ter­spie­lers bil­det somit die Grund­la­ge der Backe­schen Typo­lo­gie. Die Fol­ge­rich­tig­keit sei­ner Abhand­lung stellt er in Kapi­tel 8 »Typo­lo­gi­sche Kate­go­ri­sie­rung« an meh­re­ren Bei­spie­len unter Beweis. Lei­der ver­säumt der Autor eine Ver­or­tung der eige­nen Theo­rie im all­ge­mei­nen Bereich der Com­pu­ter­spiel­stu­di­en und ver­säumt dem Leser klar­zu­ma­chen, wel­chen Ein­fluss das Werk auf zukünf­ti­ge Com­pu­ter­spie­le dar­stel­len könnte.

Lei­der herrscht über das Buch hin­weg ein Ungleich­ge­wicht in der Län­ge der ein­zel­nen Kapi­tel. Die Kon­struk­ti­on des 3-Pha­sen Modells, abge­han­delt in Kapi­tel 7 »Struk­tur­mo­dell des Com­pu­ter­spiels«, ent­spricht einer Gesamt­län­ge von 22 Sei­ten. Dies steht in kei­nem Ver­hält­nis zur kapi­tel­über­grei­fen­den Abhand­lung von Erzähl­theo­rie, 65 Sei­ten und Spiel­theo­rie, 112 Sei­ten. Die umfang­rei­che Ana­ly­se der Com­pu­ter­spiel­ti­tel steht somit ein­deu­tig im Vor­der­grund. Der Autor han­delt hier Com­pu­ter­spie­le unter­schied­li­cher Art mit hoher Sorg­falt ab. Dies lässt letzt­lich auf die Absicht schlie­ßen, er möch­te eine umfang­rei­che Basis zur The­ma­tik schaf­fen, die haupt­säch­lich an Neu­ein­stei­ger des The­mas gerich­tet ist.


Ausgabe Nr. 2, Frühjahr 2013

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