Mythen des Alltags

Das Klebeband

Dein Freund und Helfer

Von Claudia Zech


… und noch einen vier­ten Strei­fen für die lin­ke Ecke. Gut andrü­cken und voi­là, das Pos­ter hängt – schief. Ange­spannt pfrie­meln ner­vö­se Fin­ger die Ecken wie­der von der Wand, wor­un­ter nicht nur Papier und Kle­be­schicht lei­den, son­dern auch die Psy­che. Noch ein klei­nes Stück nach rechts dre­hen, dies­mal fes­ter andrü­cken und glatt­strei­chen. Das Atmen dabei nicht ver­ges­sen. End­lich stellt sich bei der Betrach­tung aus eini­ger Ent­fer­nung die erhoff­te Zufrie­den­heit ein. Gera­de alles zusam­men­ge­packt und dem Pla­kat den Rücken zuge­kehrt, lösen sich mit einem kalt­schnäu­zi­gen Plopp die obe­ren Ecken, und das Papier schält sich schmat­zend von der Wand. Eine gelas­se­ne Stim­me aus dem Off erhebt spöt­tisch den Zei­ge­fin­ger: »Da hat wohl jemand am fal­schen Ende gespart.« Maler­krepp und Pos­ter flat­tern raschelnd zu Boden.

Die Erfin­dung eini­ger Kle­be­fil­me haben wir genau sol­chen Unglü­cken zu ver­dan­ken. Bereits kurz vor Ende des 19. Jahr­hun­derts tüf­tel­te Oscar Tro­plo­witz an einem Heft­pflas­ter, das aller­dings die Haut reiz­te und zu stark haf­te­te – der alt­be­währ­te Tesa­film war erfun­den. Spen­cer Sil­ver such­te nach einem neu­en Super­kle­ber, der stär­ker als alle bekann­ten Kleb­stof­fe wer­den soll­te. Als Ergeb­nis sei­ner Bemü­hun­gen erhielt er aller­dings ledig­lich eine kleb­ri­ge Mas­se, die zwar auf allen Flä­chen haf­te­te, sich aber eben­so leicht wie­der ablö­sen lies. Sein Kol­le­ge Arthur Fry kam dar­auf zurück, als er sich über die wie­der­keh­ren­de Mise­re beim Lie­der­sin­gen in der Kir­che erzürn­te: Eine unge­schick­te Bewe­gung beim Auf­schla­gen und sämt­li­che Zet­tel flat­ter­ten zu Boden – die Post-its waren geboren.

Heu­te gibt es mehr als 900 ver­schie­de­ne Kle­be­bän­der auf dem Markt. Berech­tigt, denn Kle­be­band ist ein ech­tes Uni­ver­sal-Genie, und wer sich etwas Zeit nimmt, die ver­schie­de­nen Sor­ten ken­nen­zu­ler­nen, dem eröff­nen sich völ­lig neue Mög­lich­kei­ten im Alltag.

Ers­te Bekannt­schaft mit der Wun­der­rol­le machen die meis­ten im Kin­des­al­ter, beim Anbrin­gen von bun­ten Fens­ter­bil­dern und beim Bas­teln. Teen­ager nut­zen den strei­fen­för­mi­gen Kle­ber, um ihr Zim­mer mit den neu­es­ten Pos­tern aus der »Bra­vo« zu tape­zie­ren und streng gehei­me Lie­bes­brie­fe sicher zu ver­schlie­ßen. Vor allem pro­vi­so­ri­sche Repa­ra­tur­diens­te leis­tet uns das Band in jeder Lebens­la­ge, sei es beim gesplit­ter­ten Han­dy-Dis­play oder beim zer­bro­che­nen Bril­len­bü­gel. In Har­ry Pot­ters Fall reicht an die­ser Stel­le auch ein ein­fa­ches »Ocu­lus repa­ro!«. Ambi­tio­nier­te Heim­wer­ker kom­men nicht zu kurz, wenn es dar­um geht, beim Malern Fens­ter- und Tür­rah­men abzu­kle­ben, Boden­be­lä­ge, Spie­gel und Dampf­sperr­fo­li­en zu befes­ti­gen und dem lecken­den Rohr­werk den Aus­gang zu ver­sper­ren. Büh­nen­ar­bei­ter fixie­ren ihre Kabel, Schau­spie­ler ihren Stand­punkt, Sport­ler ihre Mus­keln, Ärz­te ihre Kathe­ter, Spu­ren­si­che­rer ihre Tat­or­te, Zeich­ner ihre Skiz­zen, Desi­gner ihre Ent­wür­fe, Ver­sand­händ­ler ihre Waren, Buch­bin­der ihre Buch­rü­cken, Mas­ken­bild­ner ihre Perü­cken und Feti­schis­ten ihre Liebs­ten. Sogar in die Kunst hat das kleb­ri­ge Band bereits Ein­zug gehal­ten: Ob als eigen­stän­di­ges Gestal­tungs­ma­te­ri­al, Por­trait auf Lein­wand, Instal­la­ti­on, in Tanz-Per­for­man­ces, zur Raum­ge­stal­tung – der soge­nann­ten Tape Art sind kei­ne Gren­zen gesetzt. Und spä­tes­tens seit Mac­Gy­ver, der immer eine Rol­le im Gepäck hat, wis­sen wir: Mit Kle­be­band lässt sich sogar die Welt retten.

Bevor wir also mit Washi-Tape das Loch in der Motor­hau­be fli­cken oder mit Pan­zer­tape die Lider straf­fen, soll­ten wir Trä­ger­ma­te­ri­al, Kleb­stoff-Typ und auch den zu ver­kle­ben­den Unter­grund genau­er unter die Lupe neh­men. Es lohnt sich.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.