»Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdientermaßen Ventosus, den Windigen, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen. Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennen zu lernen.«[1]
Es war ein denkwürdiger Augenblick, den Petrarca, zutiefst ergriffen von der unfassbaren Weite des Gesichtskreises, am 26. April 1336 auf dem Gipfel des Mont Ventoux erlebte:
»Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagerten zu meinen Füßen. … Ich richte nunmehr meine Augen nach der Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so sehr gezogen fühlt. Die Alpen selber, eisstarrend und schneebedeckt, … sie erschienen mir greifbar nahe, obwohl sie durch einen weiten Zwischenraum getrennt sind.«[2]
Das Land seiner Sehnsucht blieb verborgen hinter einem Horizont, der sich seinem Blick in trügerischer Nähe entgegenstellte. In anderer Richtung verlor sich die Aussicht vom Gipfel dagegen in unabsehbarer Ferne: »Der Grenzwall der gallischen Lande und Hispaniens ist von dort nicht zu sehen; nicht dass meines Wissens irgendein Hindernis dazwischen träte, nein, nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermögens.«[3] So weit das Auge reichte, bot sich ihm jedoch ein grandioses Panorama: »Hingegen sah ich sehr klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist.«[4]
Über die geographische Orientierung hinaus eröffnete der Überblick ungeahnte Perspektiven, Vergewissern mündete in Gewahrwerden. Das Neuartige an Petrarcas Unternehmen war indes nicht die Bergbesteigung selbst. Dafür gab es Vorbilder schon in der Antike, von denen er wusste, seit ihm in Livius’ römischer Geschichte »zufällig jene Stelle vor Augen gekommen war, wo Philipp, der Makedonierkönig, … den Berg Hämus in Thessalien besteigt. Denn er hatte der Fabel Glauben geschenkt, man könne von seinem Gipfel zwei Meere schauen: das Adriatische und das Schwarze Meer«[5], die Grenzen seines Machtbereichs also in Augenschein nehmen.