Kurze Geschichte der HfG Ulm: 1953—1968
Inge Scholl, Otl Aicher und Max Bill mussten die HfG unter extremem Druck aufbauen: eiserne Widerstände, Anfeindungen, Intrigen und Unverständnis auf der einen Seite, Geld- und Zeitmangel auf der anderen Seite. Dazu kam noch ein bürokratisch-juristischer Hindernislauf, denn die Stiftung war zwar privat, aber sie war deshalb noch lange nicht unabhängig. Sie war auf Zuschüsse der Stadt Ulm, des Landes Baden-Württemberg und des Bundes angewiesen. Ohne dieses Geld hätte der Gebäudekomplex am Oberen Kuhberg nicht errichtet und der Betrieb der HfG nicht finanziert werden können.
Aber innerhalb von zwei Jahren gelang es vor allem Inge Scholl, wenigstens so viel Hilfe in den Parlamenten, Ministerien und der Wirtschaft zu mobilisieren, dass John J. McCloy ihr am 23. Juni 1952 im Ulmer Rathaus den Scheck über eine Million Mark überreichte.
Die HfG startete mit ihrem Lehrbetrieb am 3. August 1953, die ersten Dozenten waren ehemalige Bauhaus-Lehrer. Die Bauarbeiten für den Gebäudekomplex begannen aber erst am 8. September 1953. Der Unterricht fand deshalb in Räumen der Ulmer Volkshochschule statt, bis der Rohbau am 10. Januar 1955 bezogen werden konnte. Der Innenausbau der Schul- und Wohnbauten dauerte danach noch 9 Monate. Erst am 1. und 2. Oktober 1955 wurden die Gebäude mit einer Feier eingeweiht. Die Festrede hielt Walter Gropius, der als Architekt, Designer und Direktor des ehemaligen Bauhauses weltweit höchstes Ansehen genoss.
Die HfG bestand als Lehrinstitution 15 Jahre lang, vom Sommer 1953 bis zum Sommer 1968. Es gab in dieser Zeit keinen Tag ohne finanzielle Sorgen. Die Stiftung krebste entweder knapp oberhalb des Existenzminimums oder bewegte sich sogar unterhalb. Es gab zwar ein paar Jahre lang begründete Hoffnung darauf, dass sich die Situation grundlegend verbessern könnte, aber dieser Fall ist dann doch nicht eingetreten. Ein Resultat der permanenten Existenznot war die Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Obwohl die Studenten und Dozenten in der Gewissheit verbunden waren, dass sie einer ungeheuer fortschrittlichen Elite angehörten, wurden sie täglich damit konfrontiert, dass fast die gesamte Gesellschaft den Wert ihrer Arbeit nicht honorierte. Manche setzten sich unbekümmert und selbstbewusst darüber hinweg. Die mangelnde Wertschätzung führte aber vielfach zu Frustration. Daraus speiste sich ein Teil der Energie, die sich in vehementen Spannungen zwischen den Akteuren entlud. (Ein anderer Teil ergab sich aus der Tatsache, dass es sich bei den Menschen meist um Persönlichkeiten von starkem Charakter handelte.) Weil die Streitigkeiten mit unerbittlicher intellektueller Schärfe ausgetragen wurden, entstand für die Öffentlichkeit schnell der Eindruck, auf dem Kuhberg geschehe nichts weiter als ein permanentes Hauen und Stechen.
Max Bill war seit dem Frühjahr 1950 nicht nur als Architekt des Gebäudekomplexes vorgesehen. Er wollte auch als Rektor die HfG nach außen repräsentieren, verantwortlich sein für den Gesamtlehrplan sowie Leiter der Abteilung Architektur und Leiter der Grundlehre. Sein Rektorat endete am 31. März 1956. Dann entbrannte ein dreiviertel Jahr später, im Januar 1957 ein heftiger Streit. Die Schule spaltete sich in zwei Lager, pro und kontra Bill.
Die eigentliche Motivation Aichers und Maldonados für den offenen Bruch mit Bill war ihre Überzeugung, dass sich die HfG mit aller Kraft konsequent der Verwissenschaftlichung des Designs widmen müsse. Dieses Ziel widersprach einer traditionellen künstlerischen Auffassung, die auf dem Geniegedanken und, damit verbunden, einer Ausbildung in Meisterklassen beruhte. Aicher und Maldonado wollten den Künstler durch einen neuen Typus Gestalter ersetzen: Durch den in wissenschaftlichen Disziplinen geschulten Teamplayer, der sich gleichberechtigt mit Ingenieuren in technischen Büros austauschen konnte. Seine Arbeit sollte weit über das Erschaffen einer formal-ästhetischen Oberfläche hinausreichen. Dafür wollten sie an der HfG ein neues Berufsbild entwickeln. Diesen neuen Gestaltertyp nannten sie Designer.
Mit dem neuen Programm der Verwissenschaftlichung war der Versuch gemeint, Design als eine objektive, wertfreie (Natur-)Wissenschaft zu entwickeln. Es führte dazu, dass an der HfG eine Vielzahl ingenieur-, natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Fächer unterrichtet wurde, z. B. Kybernetik, Semiotik, Soziologie, Statistik, Stochastik, Mechanik, Materiallehre und Konstruktionslehre. Dadurch unterschied sich die HfG substantiell von den zeitgenössischen Ausbildungsorten für Architekten und Designer (Werkkunstschulen, Technische Hochschulen und Kunstakademien).
Eine Studentengeneration nach der Trennung von Bill, im Studienjahr 1961⁄62, zog Aicher Bilanz. Sein Fazit fiel erschütternd aus. Die Geister der Wissenschaft, die er selbst gerufen hatte, wollte er nun wieder mit aller Gewalt los werden. Er scheute sich nicht, erneut einen offenen Machtkampf auszutragen. Im Kern ging es bei dieser Auseinandersetzung im Jahr 1962 um die Frage, ob Design eine objektive Wissenschaft sei. Aichers Antagonist war der Mathematiker und intellektuell überragende Dozent Horst Rittel. Aicher war mit den Ergebnissen des seit 1956⁄57 eingeschlagenen Weges nicht einverstanden und hatte deshalb seine Ansicht geändert. Er war nun zur Überzeugung gelangt, dass Design nur bis zu einem (un-)bestimmten Punkt so betrachtet und betrieben werden könne wie eine Naturwissenschaft. Im Wesen sei Design keine objektive, wertfreie Wissenschaft. Er wollte nun (wieder) den Designer als wertendes und handelndes Subjekt in den Mittelpunkt der HfG-Arbeit rücken. Dadurch erhielt der Designer wieder die Autorität eines Genies, der seine Entscheidungen letztlich aus eigener Vollkommenheit trifft. Allerdings sollten Wissenschaft und Technik ihm als Hilfsmittel dienen.
Um seine Auffassung gegen einen Teil der Dozenten und der Studenten durchsetzen zu können, sorgte Aicher im Hintergrund dafür, dass die HfG eine neue Verfassung erhielt. Darin wurde das Rektoratskollegium durch einen Rektor ersetzt. Die dienende, dem Design zuarbeitende Rolle der Wissenschaft sollte sich in einer Unterordnung dieser Fachdozenten ausdrücken: Der Rektor der HfG durfte künftig nur noch ein Designer sein, die Theoretiker wurden zu Dozenten zweiter Klasse degradiert. So wurde Otl Aicher am 20. Dezember 1962 unter Umständen, die er selbst als Farce bezeichnete, zum Rektor gewählt. Die Hochschulverfassung war unter undemokratischen Umständen entsprechend geändert worden. Auch die Wahl Aichers wahrte allein unter formalen Gesichtspunkten demokratischen Anschein. Der gesamte Prozess ähnelt vielmehr einem Putsch. Dafür, dass Otl Aicher wiederum seinen Willen durchgesetzt hatte, musste die HfG in der Folgezeit einen hohen Preis bezahlen. Viele einflussreiche Förderer kehrten der HfG den Rücken zu. Sie resignierten enttäuscht oder waren von den häufigen Kursänderungen entnervt, die jedes Mal im Ton der Absolutheit und Unbedingtheit eingeläutet worden waren. Ebenso zermürbend wirkte die Ignoranz der meisten Politiker und Journalisten. Den Tiefpunkt der tendenziösen Berichterstattung bildet eine Reportage im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« 1963. Sie beschädigte nicht nur das Ansehen der HfG, sondern gefährdete ihre Existenz. Denn daraufhin ließ der Landtag von Baden-Württemberg prüfen, ob es überhaupt noch angemessen war, dass die private HfG staatliche Zuschüsse erhielt.