Buchbesprechung

»Die Pflicht, zu lernen, als Pflicht, zu lesen«

Ivan Illich entfaltet die Geschichte des Lesens

Eine Rezension von Eva Maria Kreuzer


Just als die Zei­tun­gen das Ende der Buch­kul­tur vor­aus­sa­gen, erscheint 1991 Ivan Illichs Buch »Im Wein­berg des Tex­tes«. Illich beschäf­tigt sich dar­in mit den Anfän­gen der biblio­phi­len Epo­che, deren Ende gera­de ver­kün­det wird.

Ivan Illich wur­de 1926 in Wien gebo­ren. Er stu­dier­te Natur­wis­sen­schaf­ten, Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie. Bekannt ist er vor allem durch sei­ne zivi­li­sa­ti­ons­kri­ti­schen Bücher und Essays, die in vie­le Spra­chen über­setzt wur­den.  Das Buch »Im Wein­berg des Tex­tes« bezieht sich auf ein Werk von Hugo von St. Vik­tor aus dem frü­hen 12. Jahr­hun­dert, dem »Didas­ca­li­con de stu­dio legen­di« (frei über­setzt: Didak­tik des Lesens«). Hugo von St. Vik­tor war ein Theo­lo­ge des Mit­tel­al­ters. Sein »Didas­ca­li­con« ist laut Illich das ers­te Buch, das über die Kunst des Lesens geschrie­ben wur­de. Illich kom­men­tiert Hugos Nie­der­schrift mit dem Ziel, den Blick für die Gegen­wart zu schär­fen. »Ich hof­fe, dass der von mir gese­he­ne Über­gang uns den Umbruch, des­sen Zeu­gen wir heu­te sind, noch deut­li­cher sehen lässt.«

Hugos »Didas­ca­li­con« beschreibt einen Wen­de­punkt in der Geschich­te – den Über­gang vom mur­meln­den, medi­ta­ti­ven zum schweig­sa­men, wis­sen­schaft­li­chen Lesen. »Um 1140 wird ein Blatt gewen­det. In der Buch­kul­tur wird die monas­ti­sche Sei­te zu- und die scho­las­ti­sche Sei­te auf­ge­schla­gen.« Illich ver­gleicht das monas­ti­sche Lesen mit einem Spa­zier­gang durch den Wein­berg. »Wenn Hugo liest, ern­tet er; pflückt er Bee­ren von den Zei­len.« In Kapi­teln wie »Weis­heit – Ziel des Lesens« oder »Ord­nung, Gedächt­nis und Geschich­te« gibt Illich wie­der, wie Hugo den Leser sei­ner Zeit beschreibt. Dazu gehört bei­spiels­wei­se die Gedächt­nis­übung. Für Hugo war die­se eine Vor­aus­set­zung für das Lesen. Sei­ne Schü­ler for­der­te er auf, ihre Merk­fä­hig­keit zu ver­fei­nern und dazu einen soge­nann­te »Gedächtnispalast«zu ent­wi­ckeln. Sie soll­ten sich einen Raum im eige­nen Inne­ren vor­stel­len und in die­sem Inhal­te able­gen. In die­ser mne­mo­tech­ni­schen Aus­bil­dung wur­den die Schü­ler trai­niert, sich in ihrem Gedächt­nis­la­by­rinth zu bewe­gen und Inhal­te wiederzufinden.

Zu Beginn des 12. Jahr­hun­derts voll­zieht sich dann ein Wan­del. Der tech­ni­sche Durch­bruch des Alpha­bets bedeu­tet das Ende des medi­ta­ti­ven Lesens. Von nun an wird das Buch nicht mehr als »Wein­berg«, son­dern viel­mehr als »Vor­rats­kam­mer« betrach­tet – als »unter­such­ba­rer Text«. Das scho­las­ti­sche Lesen ist ein indi­vi­du­el­les Lesen mit dem Ziel, Wis­sen zu  gene­rie­ren. Illich beschreibt die­se Ver­än­de­rung: »… aus der Par­ti­tur für from­me Murm­ler wur­de der optisch plan­mä­ßig gebau­te Text für logisch Den­ken­de.« Da die Tex­te nun Argu­men­te ent­hal­ten und man sich Gedan­ken über Glie­de­rung und Dif­fe­ren­zie­rung macht, wer­den mit dem scho­las­ti­schen Lesen  auch visu­el­le Hil­fen von Bedeu­tung. Num­me­rie­run­gen, Zwi­schen­über­schrif­ten, Fuß­no­ten und Regis­ter ver­än­dern das Lay­out. Illich geht dar­auf ein, wie das Buch dem uns bekann­ten Gebil­de immer ähn­li­cher wird.

Im letz­ten Kapi­tel »Vom Buch zum Text« greift Ivan Illich den Wan­del in unse­rer Zeit auf. Er befürch­tet, dass das Buch für vie­le sei­ne Legi­ti­ma­ti­on nur noch dar­in hat, dass es allen­falls als Meta­pher taugt, die auf »Infor­ma­ti­on« ver­weist. »Statt des Buches wird jetzt der Text zum Gegen­stand, in dem Gedan­ken gesam­melt und gespie­gelt werden.«

Illichs Text ist aktu­ell von gro­ßer Bedeu­tung, da wir uns mit­ten in dem von ihm beschrie­be­nen Umbruch befin­den: Das Buch ver­liert immer mehr an Stel­len­wert und wird vom Bild­schirm abge­löst. Durch den Blick auf die Ver­gan­gen­heit zeigt Illich, wie sich die Ver­än­de­run­gen damals voll­zo­gen und wie weit­rei­chend die Aus­wir­kun­gen bis heu­te sind. The­men wie Schrift, Illus­tra­ti­on, Lay­out und Autoren­schaft sind über­trag­bar. Denn wie ver­än­dert sich zum Bei­spiel ein Lay­out, wenn man den Inhalt eines Buches auf ein E-Book über­trägt? Oder was pas­siert mit Urhe­ber­rech­ten, wenn sich alles im Inter­net pro­blem­los verbreitet?

Gera­de Medi­en­schaf­fen­de soll­ten sich dem Wan­del durch digi­ta­le Medi­en und des­sen Aus­wir­kun­gen bewusst sein. Mit sei­nem Essay gibt Illich einen Anstoß, über die eige­nen Lese­ge­wohn­hei­ten und den Umgang mit Text nach­zu­den­ken. »Im Wein­berg des Tex­tes« soll­te des­halb auf der Lek­tür­elis­te aller Kom­mu­ni­ka­ti­ons­de­si­gner stehen.


Ausgabe Nr. 1, Herbst 2012

Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.