Tagung »text | text | text« | Essay

Schreiben durch Lesen in der Fremdsprache

Zeitgenössische Literatur als Schreib-Anlass

Von Monika Schumacher


Zeit­ge­nös­si­sche Lite­ra­tur ist eine Inspi­ra­ti­ons­quel­le für Gesprä­che mit fort­ge­schrit­te­nen Deutsch-Ler­nern, aber auch für deren Schrei­ben. Moni­ka Schu­ma­cher hat ihre Kurs­teil­neh­mer gebe­ten, auf der Basis einer aktu­el­len lite­ra­ri­schen Vor­la­ge einen eige­nen Text zu schrei­ben. Es gab dabei kei­ner­lei Vor­ga­ben zu Text­sor­te oder Umfang, jedoch soll­te das Geschrie­be­ne eine Ver­bin­dung zum Aus­gangs­text auf­wei­sen. Wel­che For­men der Inter­tex­tua­li­tät haben die Stu­den­ten gewählt: Wort­schatz, ihnen wenig geläu­fi­ge Begrif­fe, gan­ze Sät­ze oder Pas­sa­gen, Wie­der­keh­ren­des oder Inhalt­li­ches und Bezü­ge zur eige­nen (Lern-)Biografie? Das wird im Fol­gen­den anhand eini­ger Bei­spie­le gezeigt.

1 Ent­schei­dun­gen zu Form und Funk­ti­on von Entlehnungen

In 20 Tex­ten von Stu­den­ten ist eine gro­ße Viel­falt an For­men der Inter­tex­tua­li­tät zusam­men­ge­kom­men. Die Tex­te ent­hal­ten gene­rell auf mehr als einer Stu­fe Bezü­ge zum Aus­gangs­text, wobei häu­fig die eige­ne (Sprach-)Geschichte eine Rol­le spielt.

1.1 Tex­te kri­ti­sie­ren, Wort­schatz und Struk­tu­ren übernehmen

Die Stu­den­tin I. aus der Ukrai­ne schreibt, sie habe: »[…]die Gele­gen­heit, das Buch vom Schwei­zer Autor Lukas Bär­fuss ›Stil und Moral‹zu bewer­ten […]. Am Ende des Essays greift er auch das The­ma der ›eige­nen Ecke in der Gesell­schaft‹ auf, indem er zeigt, dass eine wohl­ha­ben­de Per­son alles ver­lässt und in ein afri­ka­ni­sches Flücht­lings­la­ger geht, wo gera­de die Cho­le­ra aus­ge­bro­chen ist. Trotz der Schreie und des Todes der Men­schen sitzt sie in einer Ecke und liest ›Sonet­te an Orpheus‹.«

Bär­fuss schreibt: »Und Sie müs­sen auch zuge­ben, dass im Grun­de wir alle in einer etwas ruhi­gen Ecke eines Flücht­lings­la­gers leben.« [1] I. fragt sich zum Schluss ihres Tex­tes: »[…], ob ich die­sen Essay wei­ter­emp­feh­len wür­de. Auf mich wirkt er wie ein Gedan­ken­fluss, wäh­rend dem L. Bar­fuss von einem The­ma zu einem ande­ren springt und sich nicht ganz in das Erzähl­te ver­tieft. Hier spricht er vom Elend, dort von der Wir­kung der Lek­tü­re auf das Bewusst­sein und am Ende beschäf­tigt er sich mit der phi­lo­so­phi­schen Fra­ge der ›eige­nen Ecke in der Gesell­schaft‹. Im Gros­sen und Gan­zen fin­de ich die­ses Werk aber gelungen.«

1.2 Bezü­ge zur eige­nen Bio­gra­phie schaffen

Bar­ba­ra Honig­mann berich­tet im in sich geschlos­se­nen Ein­gangs­ka­pi­tel ihres letz­ten Buches, wie sich ihre Fami­lie in Straß­burg in einer Stra­ße außer­halb des berühm­ten Zen­trums nie­der­ge­las­sen hat: »Wenn wir sagen, dass wir in der Rue Edel woh­nen, ant­wor­tet man uns meis­tens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt. Unse­re Stra­ße scheint also eine Stra­ße des Anfangs und des Ankom­mens zu sein, bevor man näm­lich in die bes­se­ren Vier­tel umzieht,[…]« [2]
Die­ser Ein­stieg wur­de von den Struk­tu­ren her par­al­lel und inhalt­lich abge­wan­delt auf die eige­ne Stra­ße von meh­re­ren Stu­den­ten über­nom­men. M. aus Frank­reich schreibt: »Wenn ich sage, dass ich am Klos­ter­weg lebe, bekom­me ich meis­tens kei­ne Reak­ti­on. Wenn ich sage, dass ich beim Zoo-Ein­gang woh­ne, sagen die Leu­te dann:›Oh wie schön!‹«. Auch R. aus Japan beginnt wie die Autorin des Aus­gangs­tex­tes: »Wenn ich sage, dass die schöns­te Stra­ße mei­nes Lebens mein Schul­weg zur Pri­mar­schu­le ist, zeigt sich auf den meis­ten Gesich­tern der Wohn­vier­tel-Ken­ner gro­ßes Erstau­nen.« A. aus Bra­si­li­en sin­niert dar­über, was eine Stra­ße letzt­lich aus­macht: »Die Stra­ßen, mei­ne, die von Bar­ba­ra oder von irgend­je­man­dem, könn­ten chic, schön, mit Parks, Geschäf­ten, Restau­rants und noch mehr sein. Wenn die Ein­woh­ner nicht nett, hilfs­be­reit, freund­lich, ver­ständ­nis­voll sind, wird die Stra­ße auch unele­gant sein […]. Eine gute Nach­bar­schaft ver­schö­nert die Stra­ße, das Quar­tier und sogar die Stadt.«

1.3 Lite­ra­ri­sche For­men und The­men übernehmen

Ange­la Kraus’ Text bewegt sich mit Kind­heits­fo­tos illus­triert und von die­sen inspi­riert an der Schnitt­stel­le zwi­schen Lyrik und Pro­sa [3]. Der Satz: »Ich bin ein Kind, aber nicht die­ses. Ich bin das ande­re, das mich bewohnt« lässt Z. aus der Tsche­chi­schen Repu­blik sin­nie­ren: »Wochen­ta­ge: Der Mon­tag ist ein Tele­fon, das an der Wand hängt - grau. Der Diens­tag muss wohl ein Kin­der­wa­gen sein - bor­deaux. Am Mitt­woch sehe ich die Kir­schen, genau­so, wie die in einem Buch gezeich­net waren - zum Fres­sen schön![…] - Ich habe schon als Kind bild­lich über­legt; komisch, dass die Bil­der immer noch da sind.«

Z. aus Kroa­ti­en über­legt sich, wer sie als Kind war und nun als Erwach­se­ne ist: »Es ist schwie­rig, zu sagen, wer ich bin. […] Wahr­schein­lich hat es damit zu tun, dass ich mich nicht so gut an mei­ne Ver­gan­gen­heit, beson­ders mei­ne Kind­heit erin­nern kann. Ich habe gele­sen, die Zel­len des mensch­li­chen Kör­pers ver­än­dern sich stän­dig und das gan­ze Sys­tem, das heißt, der Kör­per, wird völ­lig anders alle paar Jah­re. Ist es dann nicht ver­ständ­lich, dass ich fast kei­ne Bezie­hung zu mei­nem ver­gan­ge­nen Ich finde?«

M. aus Frank­reich hört im »bewohnt« von Kraus: einen »[…] ober­ton­rei­chen Hall. Der lan­ge Vokal ›O‹ erfüllt mich ange­nehm. Das Foto strahlt etwas Posi­ti­ves aus. Das Mäd­chen ist dabei, einen Schritt auf die Stra­ße machen zu wol­len. Die Stra­ße ist voll besonnt.«

1.4 Die Erzähl­per­spek­ti­ve verändern

In der Erzäh­lung »Mein Herz ist betrübt« [4] befin­den sich zwei über Acht­zig­jäh­ri­ge in einem veri­ta­blen Rosen­krieg. Die Autorin lässt den Mann dabei Fol­gen­des äußern:
»Je öfter er sie zwang­haft anstarr­te, umso beun­ru­hig­ter, ange­wi­der­ter wur­de er. So wie sie wür­de er in weni­gen Jah­ren sein, eine vege­tie­ren­de Mumie, ein wack­li­ges Knochengerüst.«

Z. aus der Tsche­chi­schen Repu­blik lie­fert eine Nach­er­zäh­lung aus der Per­spek­ti­ve der Frau:
»Sie hei­ra­te­te ihn wegen sei­ner Schön­heit. Von die­ser war aller­dings schon lan­ge nichts mehr übrig. Sein ver­run­zel­tes Gesicht, sei­ne lang­sa­men Bewe­gun­gen und sei­ne krum­men Bei­ne. Nichts war schön an ihm. Sei­ne Schön­heit ver­blass­te, sie hat­te nur die Fotos und vage Erin­ne­run­gen an frü­he­re Tage.«

Mei­ers männ­li­cher Prot­ago­nist sieht im Geld den Grund für den gegen­sei­ti­gen Hass: »Das Ein­zi­ge, was sie noch inter­es­sier­te, war Geld.« P. aus Peru schreibt dazu: »Her­mi­ne war immer wohl­ha­bend und ist immer noch sehr an Geld inter­es­siert.[…] Er küm­mert sich um den Haus­halt und ist eine Art ›Haus­be­am­ter‹ zu Hau­se gewor­den. […] Der Höhe­punkt ist, wo Her­mi­ne eine schwe­re Ver­let­zung vor­täuscht und ihr Mann sie igno­riert und schla­fen geht. Die Geschich­te über Alter, Krank­heit und Tod bie­tet kein Hap­py End. Sie beschreibt meta­pho­risch das Ehe­le­ben von vie­len Paaren.«

2 Abschlie­ßen­de Bemerkungen

Jedes Stück Pro­sa bie­tet den Ler­nen­den ande­re Mög­lich­kei­ten, Bezü­gen zu suchen - die vor­ge­stell­ten Bei­spie­le sind daher eine sehr klei­ne Aus­wahl. Das expe­ri­men­tel­le Schrei­ben hat bei kei­ner Studentin/keinem Stu­den­ten zur Fra­ge »Was schrei­be ich denn?« geführt. Im Gegen­teil: In den Schreib­ate­liers, in deren Rah­men die Tex­te ent­stan­den, wur­de moti­viert gear­bei­tet. Aus­ge­hend von den Tex­ten der Stu­den­ten kann im Unter­richt wun­der­bar dis­ku­tiert wer­den; über die lite­ra­ri­schen Tex­te, die eige­nen und die geschaf­fe­nen Ver­bin­dun­gen zwi­schen bei­dem. Das indi­vi­du­el­le Lesen und Sehen bie­tet so einen ech­ten Bei­trag zur all­seits pro­pa­gier­ten Inter- bzw. Transkulturalität.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.