Doppelausgabe Nr. 14 und 15, Herbst 2019: Mythen des Alltags

Selfie-Stick

Wenn Teleskopstab-Akrobaten fotografieren

Von Nadine Rupprecht


»Ent­schul­di­gung, könn­ten Sie bit­te ein Foto von uns machen?« – die­se Fra­ge hört man immer sel­te­ner, denn statt­des­sen grei­fen Frei­zeit­fo­to­gra­fen heu­te eman­zi­piert zum Selfie-Stick.

Nach sei­ner Erfin­dung und Markt­ein­füh­rung unter dem Namen »Quik­pod« wur­de der Sel­fie-Stick 2014 im Time Maga­zi­ne unter die 25 bes­ten Erfin­dun­gen des Jah­res gewählt.[1] Eben­falls 2014 schos­sen die Goog­le-Such­an­fra­gen nach dem Such­be­griff »Sel­fie-Stick« welt­weit in die Höhe.[2]

Das spie­gelt sich in der Rea­li­tät wider: Immer öfter sind in der Öffent­lich­keit Men­schen mit einem Sel­fie-Stick zu sehen. Das Prin­zip dabei ist sim­pel: Der Sel­fie-Stick ist ein aus­fahr­ba­rer Tele­skop­stab, an des­sen einem Ende sich ein gum­mier­ter Griff, am ande­ren Ende eine Hal­te­rung für Smart­phones befin­det. Der Stab wird zu einem ver­län­ger­ten Arm und erlaubt dabei einen höhe­ren Win­kel und damit ande­re Per­spek­ti­ven. Das ermög­licht auch Auf­nah­men von meh­re­ren Per­so­nen oder das Ein­be­zie­hen der Umgebung.

Einen Vor­läu­fer einer sol­chen Armer­wei­te­rung zum Foto­gra­fie­ren prä­sen­tier­te die Fir­ma »Minol­ta« schon 1983 mit ihrer paten­tier­ten Tele­s­kop­ver­län­ge­rung für Kame­ras[3] Mitt­ler­wei­le hat der Tele­skop­stock jedoch eini­ges an Raf­fi­nes­se hin­zu­ge­won­nen. Der Aus­lö­ser der Han­dy­ka­me­ra kann bei den mit­tel- und höher­prei­si­gen Model­len bei­spiels­wei­se mit­tels Blue­tooth oder direkt am Griff des Stabs betä­tigt wer­den. Das erspart ein läs­ti­ges Ein­stel­len des Selbst­aus­lö­sers an der Hand­ka­me­ra und ganz neben­bei auch noch das weni­ge biss­chen sozia­le Inter­ak­ti­on, das nötig gewe­sen wäre, hät­te man einen Pas­san­ten um die per­fek­te Insze­nie­rung bit­ten müs­sen. Der Sel­fie-Stab macht uns unab­hän­gig. Das macht ihn beson­ders bei Tou­ris­ten zu einer unver­zicht­ba­ren Erwei­te­rung der Ich-Zone. Kaum ein Stadt­bum­mel, in dem man nicht einen Sel­fie-Stick-Knip­ser ent­deckt und ihn bei sei­nen zahl­rei­chen »Schnapp­schüs­sen« amü­siert beob­ach­ten könn­te. Kaum eine Innen­stadt, in der man sich nicht durch die­ses gespon­ne­ne Netz aus Tele­skop­stä­ben und ange­strengt in ihre Smart­phones grin­sen­den Men­schen manö­vrie­ren müsste.

Die Sel­fie-Stick-Manie geht mitt­ler­wei­le so weit, dass sich vie­le gro­ße Muse­en, Frei­zeit­parks und Sport­ver­ei­ne gezwun­gen sehen, Maß­nah­men zu ergrei­fen. Das Sicher­heits­ri­si­ko sei schlicht­weg zu groß. Die Staat­li­chen Muse­en Ber­lin zum Bei­spiel ord­ne­ten den Tele­skop­stab als »sperrige[n] und scharfkantige[n] Gegen­stand« ein, der sowohl Besu­cher, wie auch Aus­stel­lungs­stü­cke gefähr­de.[4]

Das boo­men­de Sich-selbst-Foto­gra­fie­ren ist jedoch kei­nes­wegs bloß Aus­druck einer neu­en Selbst­ver­liebt­heit, son­dern viel­mehr eine Ver­ge­wis­se­rung sei­ner Selbst, ein Zei­chen von Iden­ti­täts­be­wusst­sein, ein Her­aus­he­ben des Indi­vi­du­ums aus der Mas­se. Das Sel­fie kann als eine zeit­ge­nös­si­sche Form der Kom­mu­ni­ka­ti­on gese­hen wer­den – der Sel­fie-Stick ist dabei ein hilf­rei­ches Werk­zeug hin zur Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Selbst­por­träts und dem Erhalt der Kon­trol­le über die Dar­stel­lung des Ichs.

Den­noch emp­fin­det man­cher die­se Flut an meist belang­lo­sen Selbst­dar­stel­lun­gen als befremd­lich. Das scham­lo­se, öffent­li­che Posie­ren mit dem Sel­fie-Stick wirkt bei­na­he so, als sei es irrele­vant, wel­chen Ein­druck man in der rea­len Welt hin­ter­las­se. Viel wich­ti­ger sei die, ohne­hin bes­ser kon­trol­lier­ba­re, Insze­nie­rung und Plat­zie­rung des Ichs in der vir­tu­el­len Welt. Der Sel­fie-Stick för­dert die­se Ver­schie­bung von Rea­li­tät zu Vir­tua­li­tät nicht nur in Bezug auf die Per­sön­lich­keits­dar­stel­lung. Auch die sozia­le Kom­mu­ni­ka­ti­on und Inter­ak­ti­on ver­la­gert sich immer wei­ter in den vir­tu­el­len Raum. »Gefällt dir die­ses Foto? Kom­men­tar hinzufügen …«


Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.