Eines der bemer­kens­wer­tes­ten Bücher der deutsch­spra­chi­gen Gegen­warts­li­te­ra­tur ist der 2006 erschie­ne­ne, mit dem Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se aus­ge­zeich­ne­te und in vie­len Spra­chen über­setz­te Roman »Der Wel­ten­samm­ler« von Ili­ja Tro­ja­now[6]. Der Autor, in Bul­ga­ri­en gebo­ren, u. a. in Kenia und Deutsch­land auf­ge­wach­sen, spä­ter in Indi­en und Süd­afri­ka lebend und heu­te in Wien zuhau­se, ist nicht nur selbst wie vie­le der hier erwähn­ten Autorin­nen und Autoren ein Kos­mo­po­lit, viel­spra­chig und viel­sei­tig gebil­det. Er hat sich in die­sem Roman eines bri­ti­schen Kolo­ni­al­be­am­ten, Aben­teu­rers, For­schers und Gelehr­ten ange­nom­men, zeich­net drei sei­ner Lebens­sta­tio­nen nach und stürzt sich mit­ten in das Uto­pi­sche und Skan­da­lö­se, das Radi­ka­le und Zwie­späl­ti­ge, ja Anstö­ßi­ge die­ser Figur und ihrer Ambi­tio­nen. Die Rede ist von Richard Fran­cis Bur­ton (1821—1890) und sei­ner Zeit in Indi­en, Ara­bi­en und Ost­afri­ka. Bur­ton hat als Beam­ter der East India Com­pa­ny in Indi­en gear­bei­tet, ver­klei­det als indi­scher Mus­lim spä­ter die Hadj nach Mek­ka unter­nom­men und sich schließ­lich in Afri­ka auf die Suche nach den Quel­len des Nils bege­ben. Tro­ja­now hat übri­gens unge­fähr 150 Jah­re danach eben­falls die Pil­ger­rei­se nach Mek­ka ange­tre­ten, wor­auf er sich inten­siv und in einer Art Bil­dungs-Tausch­ge­schäft mit jun­gen isla­mi­schen Rechts­ge­lehr­ten vor­be­rei­te­te. Inwie­weit Bur­tons Hadj nur eine mas­kier­te neu­gie­ri­ge Bil­dungs­rei­se oder doch Aus­druck ech­ter Kon­ver­si­on war, bleibt rät­sel­haft und wird auch im Roman selbst zum The­ma. Ja, die Anver­wand­lung und Mas­ke­ra­de, das Erler­nen frem­der Spra­chen und Gebräu­che bis hin zur Sexu­al­for­schung, was Bur­ton alles inten­siv und exzes­siv betrieb, sind selbst zutiefst ambi­va­lent. Zugleich ver­wei­sen die­se Stra­te­gien der Aneig­nung, Durch­drin­gung und Inbe­sitz­nah­me auf das ästhe­ti­sche Ver­fah­ren selbst und sei­ne Vor­aus­set­zun­gen und Impli­ka­tio­nen. Exo­tis­mus setzt Kolo­nia­lis­mus vor­aus, im Genuss exo­ti­scher Schau­plät­ze und Freu­den, im gelin­gen­den Aben­teu­er genießt sich der sieg­rei­che Kolo­nia­lis­mus selbst und ver­schafft sich sei­nen Ner­ven­kit­zel an der Hei­mat­front. Zugleich sticht Bur­ton unter den For­schern, Erobe­rern und Aben­teu­rern des 19. Jahr­hun­derts eben durch sei­ne Wiss­be­gier­de, sei­ne Ver­wand­lungs­be­reit­schaft, sei­ne flot­tie­ren­de Iden­ti­tät, die Inten­si­tät, mit der er sich auf das Ande­re, Frem­de ein­lässt, her­vor. Wird er selbst schon zu einer zwei­deu­ti­gen, hier wie dort anstö­ßi­gen Gestalt, so nähert sich Tro­ja­now die­ser ihn fas­zi­nie­ren­den Figur und den Lebens­sta­tio­nen, die er eben auch selbst kennt, auf mehr­fach gebro­che­ne Wei­se. Damit schreibt er an dem post­ko­lo­nia­len Pro­jekt des hybri­den Romans wei­ter, in dem es immer auch um eine nicht mehr instru­men­tel­le, nicht mehr kon­su­mis­ti­sche, nicht mehr macht­ori­en­tier­te und usur­pa­to­ri­sche Annä­he­rung an das Frem­de geht – eine schie­re Unmög­lich­keit, auf die nur in Bre­chun­gen, Annä­he­run­gen, imma­nen­ter Refle­xi­on, einer Art ästhe­ti­schem Dou­ble-Talk ver­wie­sen wer­den kann. Das tut »Der Wel­ten­samm­ler« meis­ter­haft. Nicht nur wird jeder der den Lebens­sta­tio­nen zuge­ord­ne­ten drei Tei­le in einer ande­ren Dik­ti­on, ande­ren Ton­la­ge, einem ande­ren Rhyth­mus, einer ande­ren Form erzählt. Es wird erzähl­tech­nisch immer auch zwi­schen Bur­ton, Die­nern, Beglei­tern, Gelieb­ten, Füh­rern, Offi­zi­el­len in Mek­ka und ande­ren Zeu­gen, schließ­lich Doku­men­ten und ande­ren Quel­len gewech­selt, so dass einer­seits eine dyna­mi­sche Herr-Knecht-Span­nung und -Dia­lek­tik ent­steht, in der das hier­ar­chi­sche Macht­ge­fü­ge, das Bur­tons Zugang zur Welt ermög­licht, mar­kiert und in die Schwe­be gebracht wird. Die frem­den Spra­chen, die frem­den Rhyth­men, die wech­seln­den Sprach­for­meln und Anschau­un­gen wer­den zitat­haft und leit­mo­ti­visch im Text auf­ge­ru­fen und dekla­miert, es spricht nicht nur Bur­ton über die ande­ren, die ande­ren spre­chen über ihn, erzäh­len ihn, beob­ach­ten ihn, und sie tun dies in einer ande­ren Dik­ti­on als er. Das Herr­schafts­kri­ti­sche des hybri­den Romans wird in die­ser bis in den kleins­ten Sprach­ges­tus rei­chen­den Dia­lek­tik sinn­fäl­lig. Tro­ja­now hat weder einen psy­cho­lo­gi­schen, noch einen his­to­ri­schen Roman vor­ge­legt, weder einen Doku­men­tar­ro­man, noch einen exo­ti­schen Aben­teu­er­ro­man, son­dern er tran­szen­diert alle die­se For­men und Ver­fah­ren in einer neu­en, auch die deut­sche Spra­che berei­chern­den, Form und Erzähl­wei­se, für die wir kei­nen eige­nen Begriff haben. Das aber ist gera­de nicht Aus­druck eines Schei­terns, son­dern öff­net einen Raum zwi­schen dem Anspruch, alles, auch das Frem­des­te ver­ste­hen und sich damit gefü­gig machen zu wol­len – uni­ver­sel­ler Her­me­neu­tik – und der Wider­stän­dig­keit des Frem­den, des Ande­ren, das sich eben die­sem Zugriff ent­zie­hen will, muss und wird – der Her­me­tik, in der das Ande­re als Ande­res erst sicht­bar wird.

Ein ande­rer Autor, den man hier im Zusam­men­hang mit soge­nann­ten Migran­ten­au­toren in der deutsch­spra­chi­gen Gegen­warts­li­te­ra­tur nen­nen kann – neben Teré­zia Mora, Emi­ne Sev­gi Özda­mar, Melin­da Nadj Abon­ji, Saša Sta­nišić oder Sher­ko Fatah – ist Fer­idun Zai­mo­g­lu. Ich möch­te in unse­rem Zusam­men­hang nur auf einen Aspekt sei­nes Wer­kes hin­wei­sen, auf die von ihm so genann­te und kre­ierte »Kanak Sprak«. Zai­mo­g­lu hat damit für eine gewis­se Ver­wir­rung gesorgt, weil die unter die­sem Titel erschie­ne­nen »24 Miss­tö­ne vom Ran­de der Gesell­schaft«[7] auf vie­le wegen ihres qua­si doku­men­ta­ri­schen Cha­rak­ters wie ech­te Beschrei­bun­gen einer tür­kisch-deut­schen Sub­kul­tur erschie­nen oder wie das Pro­dukt eines mar­gi­na­li­sier­ten, qua­si-pro­le­ta­ri­schen Außen­sei­ter-Milieus. Man hielt Kanak Sprak zunächst für das authen­ti­sche Pro­to­koll einer exis­tie­ren­den Sub­kul­tur und ihres »Kiez­deutsch«, wie man die­se im Zusam­men­hang mit Migra­ti­on ent­ste­hen­den neu­en For­men des Deut­schen auch nennt. Zai­mog­lus »Kanak Sprak« aber ist eine Kunst­spra­che, die eben­so viel mög­li­cher­wei­se ech­ten Tür­ken­jar­gon ent­hal­ten mag, wie sie etwa bibli­sche Ele­men­te und lite­ra­ri­sche Zita­te ver­wen­det. Kanak Sprak ist eine fik­tio­na­le Spra­che der Deser­ti­on inner­halb des geläu­fi­gen Deut­schen, das Zai­mo­g­lu, der im Alter von einem Jahr aus der Tür­kei nach Deutsch­land kam und des­sen rol­len­des »R« aus sei­ner Kind­heit in Bay­ern stammt, per­fekt und wort­reich beherrscht. Wenn sich Zai­mo­g­lu und ande­re demons­tra­tiv »Kana­ken« nen­nen und einen pejo­ra­ti­ven, ja denun­zia­to­ri­schen Begriff offen­siv wen­den, blei­ben sie in einer Rela­ti­on zu die­sen Zuschrei­bun­gen. Es ist eine zugleich gebro­che­ne Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Aggres­sor. Und es bleibt ein Gegen­stand stän­di­ger Dis­kus­sio­nen, Miss­ver­ständ­nis­se, Aggres­sio­nen und uner­schöpf­li­cher Pro­duk­ti­vi­tät, bei denen immer wie­der von Zai­mo­g­lu bei aller Zuge­hö­rig­keit die Dif­fe­renz zur herr­schen­den deut­schen Spra­che und Kul­tur, dem Main­stream und sei­nen Kate­go­rien betont wird. So rät­sel­haft mit­un­ter sein mag, wo genau sich Zai­mo­g­lu als pro­gres­siv-kri­ti­scher Geist inner­halb poli­tisch-kul­tu­rel­ler Debat­ten, inner­halb der Gegen­warts­li­te­ra­tur, in der Islam-Dis­kus­si­on, in der Fra­ge nach Sub­ver­si­on und Anpas­sung an den Kul­tur­be­trieb ver­or­tet, eben das ver­weist auf die Unlös­bar­keit eines in unse­ren glo­ba­li­sier­ten Gesell­schaft selbst ange­leg­ten Kon­flikts. Die im Zusam­men­hang mit der Theo­rie des Post­ko­lo­nia­lis­mus dis­ku­tier­ten Fra­gen nach sprach­lich-kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät, den Macht­ver­hält­nis­sen, Herr­schafts­struk­tu­ren von Spra­che und Begriff­lich­keit sind längst Fra­gen, die sich inner­halb unse­rer Gesell­schaf­ten selbst stel­len, ganz gleich, was für Kolo­ni­al­mäch­te wir nun waren oder auch nicht waren. Mei­ne The­se ist also, dass man aus der Betrach­tung hybri­der Lite­ra­tur, hybri­der Roma­ne in der post­ko­lo­nia­len, glo­ba­len Gegen­warts­li­te­ra­tur Ein­sich­ten ablei­ten kann, die sich auf unse­re eige­nen Lite­ra­tu­ren bezie­hen, übri­gens nicht nur auf die Migra­ti­ons­li­te­ra­tur. Einer der ers­ten deut­schen Roma­ne der Nach­kriegs­li­te­ra­tur, den man post­ko­lo­ni­al nen­nen kann, »Mor­en­ga«, der for­mal über­aus bemer­kens­wert und ambi­tio­niert ist und eher als Soli­tär in der dama­li­gen zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur steht, stammt von Uwe Timm.[8] Ohne dass ich an die­ser Stel­le auf Timms zwei­ten Roman ein­ge­hen kann, möch­te ich den Begriff hybri­de Lite­ra­tur ver­wen­den, um anhand von zwei pro­mi­nen­ten Bei­spie­len wei­ter zurück in die Geschich­te des moder­nen Romans zu bli­cken. Die The­se ist, dass das, was im post­ko­lo­nia­len Dis­kurs und den ent­spre­chen­den Roma­nen, die hier gemeint sind, zuta­ge tritt, sehr viel älter und uni­ver­sel­ler ist, als es zunächst den Anschein hat. Damit das nicht nach blo­ßer Leicht­fer­tig­keit klingt, kann man sicher sagen, dass in der glo­ba­li­sier­ten Geschich­te der Neu­zeit all die poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Macht­struk­tu­ren und Ver­flech­tun­gen, Ideo­lo­gien und Wer­te­sys­te­me bereits vor­han­den und ange­legt sind, die sich im Lau­fe der Moder­ne ent­fal­tet und durch­ge­setzt haben, auch mit ihrem ver­nich­ten­den, kata­stro­pha­len Potential.

Ein eben­so berühm­tes wie sper­ri­ges, in Schrumpf- und Deri­vat­for­men und Vari­an­ten, durch Ver­fil­mun­gen und Kin­der­buch­fas­sun­gen über­lie­fer­tes, unend­lich ein­fluss­rei­ches und mög­li­cher­wei­se in sei­ner authen­ti­schen Form und sei­nem ganz mons­trö­sen Umfang wei­ter­hin außer­or­dent­lich rät­sel­haf­tes Werk ist Her­man Mel­vil­les Roman »Moby Dick oder Der Wal« (1851). Das Beson­de­re ist nicht nur der For­men­reich­tum, die Viel­stim­mig­keit, der gewal­ti­ge Gat­tungs­mix, die Häu­fung aller mög­li­chen Quel­len und Erklä­run­gen, was den Wal, die Wal­jagd und den Wal­fang, die Roman­fi­gu­ren, die Zeit­um­stän­de und all­ge­mei­ne Exkur­se etwa über das »Weiß des Wals«[9] anbe­langt, so dass das Werk in sei­ner enzy­klo­pä­di­schen Fül­le selbst wie ein »Wal« daher­kommt. Es sind sei­ne schein­ba­re Form­lo­sig­keit und Offen­heit, das Selbst­re­fle­xi­ve und Selbst­re­fe­ren­ti­el­le, die Ein­schü­be, Abschwei­fun­gen, die Mischung lau­ter ver­schie­de­ner Text­sor­ten, die Abwe­sen­heit eines ord­nen­den Erzäh­lers, obwohl die­ser Erzäh­ler sich in dem berühm­ten ers­ten Satz des 1. Kapi­tels gleich mit Namen mel­det: »Nennt mich Isma­el.« Der Autor des Nach­worts zu Mat­thi­as Jen­dis’ Neu­über­set­zung von »Moby Dick«, Dani­el Gös­ke, nennt selbst den Roman Mel­vil­les ein Werk der »intel­lek­tu­el­len Wan­der­lust« und führt aus, dass Mel­vil­les »Moby Dick« »kein plan­voll gestal­te­tes, hand­werk­lich aus­ge­feil­tes Meis­ter­werk« sei, was ich anders sehe. »Das Buch lebt vor allem«, schreibt Gös­ke, »von der uner­schöpf­li­chen Neu­gier, der aus­grei­fen­den Phan­ta­sie, der intel­lek­tu­el­len Wan­der­lust und der Wand­lungs­fä­hig­keit sei­nes Erzäh­lers, bes­ser gesagt: der Erzähl­stim­me. Sie lässt Figu­ren und Ideen auf­schei­nen, zusam­men­tref­fen und wie­der aus­ein­an­der­drif­ten.«[10]