4 Prag­ma­tik der visu­el­len Argumentation

Bil­der wir­ken auf Rezi­pi­en­ten emo­tio­nal kraft ihrer Evi­denz und mate­ri­el­len Prä­senz. Als Ein­zel­zei­chen prä­sen­tie­ren Bil­der sich weder als wahr noch als falsch. Sie sind prä­lo­gisch im Sin­ne der for­ma­len Logik, obgleich ihre Bild­lo­gik mit­tels des Ikons die Iden­ti­tät von etwas behaup­tet – schein­bar wie ein Eigen­na­me. Ver­ste­hen Rezi­pi­en­ten die Fol­ge­rich­tig­keit einer visu­el­len Argu­men­ta­ti­on, dann zei­gen sie sich even­tu­ell betrof­fen, erhei­tert, gerührt, also emo­tio­nal berührt, obgleich eine Reak­ti­on kei­ner logi­schen Fol­ge­rich­tig­keit unter­liegt. Für prä­lo­gi­sche, emo­tio­na­le Inter­pre­ta­tio­nen defi­niert Peirce das soge­nann­te »Rhe­ma« als Inter­pre­tan­ten­be­zug eine Zei­chens.[40] Das Rhe­ma steht in der Dimen­si­on der Prag­ma­tik, wie Zei­chen auf einen Rezi­pi­en­ten wir­ken und was sie ihm bedeu­ten. Nahe­zu alle Bil­der pro­vo­zie­ren einen rhe­ma­ti­schen Inter­pre­tan­ten­be­zug, weil ihre Wir­kung und Bedeu­tung anfäng­lich emo­tio­nal zu begrei­fen ist.

Gewiss erlan­gen Bil­der ratio­na­le Inter­pre­ta­tio­nen, aber ihre rhe­to­ri­sche Durch­set­zungs­fä­hig­keit beruht dar­auf, star­ke Emo­tio­na­li­sie­run­gen als »über­wäl­ti­gen­des Argu­ment« ihrer visu­el­len Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gie zu erwe­cken. Die Wer­be­bil­der des Auto­mar­ke­tings set­zen bei­spiels­wei­se auf das Stil­mit­tel, die Kraft und Schön­heit des Autos bild­haft zu for­mu­lie­ren, um poten­ti­el­le Käu­fer abzu­len­ken, ratio­nal zu beden­ken, wel­che Gefah­ren und Kos­ten mit einem Auto ver­bun­den sind. In der Pro­vo­ka­ti­on einer emo­tio­na­len Inter­pre­ta­ti­on liegt oft die ästhe­ti­sche Inten­si­tät aller visu­el­len Argu­men­ta­ti­on, um ratio­na­le Über­le­gun­gen anhand einer for­ma­len Logik zu beein­flus­sen oder zu ver­mei­den. Rezi­pi­en­ten kön­nen die visu­el­le Argu­men­ta­ti­on so mani­pu­lie­ren, dass sie ihr Han­deln auf­grund emo­tio­na­ler Inter­pre­ta­tio­nen als fol­ge­rich­tig behaup­ten, obgleich viel­leicht ratio­na­le Grün­de dage­gen­spre­chen wür­den. Die viel­fach vor­ge­brach­te »Macht der Bil­der« begrün­det sich mit der spe­zi­fi­schen Bild­lo­gik, die sub­jek­ti­ves Han­deln legi­ti­mie­ren kann, wenn visu­el­le Argu­men­ta­tio­nen zu emo­tio­na­len Recht­fer­ti­gun­gen moti­vie­ren. Um Kon­sum­wün­sche für die viel­fäl­ti­gen Kon­sum­gü­ter zu erwe­cken, reicht es in der Welt­ge­sell­schaft häu­fig aus, wenn ste­hen­de oder beweg­te Bil­der von den jewei­li­gen Pro­duk­ten in Beglei­tung pres­ti­ge­träch­ti­ger Sym­bo­le emo­tio­nal per­sua­siv wir­ken. Auf die­se Wei­se ver­führt eine Bild­lo­gik die Rezi­pi­en­ten dazu, sich bei­spiels­wei­se im Design eines Autos ästhe­tisch erstre­bens­wer­te Lebens­sti­le zu erfül­len und gleich­zei­tig zu ver­drän­gen, dass Autos bis­her einer nach­hal­ti­gen Zukunft entgegenstehen.

Die visu­el­le Argu­men­ta­ti­on der Bild­kom­mu­ni­ka­ti­on wäre falsch dar­ge­stellt, wenn nur emo­tio­na­le sowie ästhe­ti­sche Bedeu­tun­gen, aber kei­ne ratio­na­len Bedeu­tun­gen inter­pre­tiert wer­den könn­ten. Die ers­ten Rönt­gen­bil­der im Jah­re 1895 zeig­ten schließ­lich einen unab­weis­ba­ren Sach­ver­halt und eine spe­zi­fi­sche Rea­li­tät mensch­li­cher Ske­let­te und Orga­ne. Sol­che bild­ge­ben­den Ver­fah­ren, wie sie auch in der Ultra­schall-, Rönt­gen- und Nukle­ar­dia­gnos­tik, Magnet­re­so­nanz- und Com­pu­ter­to­mo­gra­fie sowie die Endo­sko­pie heut­zu­ta­ge ver­wen­det wer­den, visua­li­sie­ren phy­si­ka­li­sche Mess­grö­ßen. Die ver­wen­de­ten Mess­grö­ßen ent­schei­den bei allen Ver­fah­ren der Bil­der­zeu­gung, wie etwas auf einer bild­haf­ten Dar­stel­lung zu sehen sein wird. Die Kern­phy­sik nutzt bei­spiels­wei­se die Teil­chen­strah­lung, um Bil­der mit­tels eines Elek­tro­nen­mi­kro­skops zu erzeu­gen. Die Luft­auf­klä­rung ver­wen­det die Radar­strah­lung, um Flug­ob­jek­te im Luft­raum bild­haft dar­zu­stel­len. Und die Mess­grö­ße der Foto­gra­fie ist das Licht, wel­ches mit­tels der Foto­tech­nik ein Bild erzeugt. Alle genann­ten Bei­spie­le der bild­ge­ben­den Ver­fah­ren basie­ren auf der Evi­denz, dass phy­si­ka­li­sche Mess­grö­ßen auf der kau­sa­len Bezie­hung von Ursa­che und Wir­kung beru­hen. Aus sol­chen bild­ge­ben­den Mes­sun­gen folgt die Kau­sa­li­tät, die in den Natur­wis­sen­schaf­ten als eine Basis der Theo­rie­bil­dung und oft als Beweis einer Rea­li­tät gilt. Die Prä­zi­si­on, die Bird­sell und Gro­ar­ke[41] den Bedeu­tun­gen der Wor­te zuschreibt, zei­gen Bil­der ein­deu­tig hin­sicht­lich der Visua­li­sie­rung von Mess­grö­ßen, obgleich deren Bedeu­tun­gen viel­fäl­tig bzw. inter­pre­ta­tiv offen bleiben.

Die ästhe­ti­schen oder emo­tio­na­len Inter­pre­ta­tio­nen las­sen bild­ge­ben­de Ver­fah­ren unbe­rück­sich­tigt, weil deren visu­el­le Argu­men­ta­ti­on sich auf Mess­grö­ßen und deren Kau­sa­li­tät stüt­zen soll. Die Rea­li­tät eines Kno­chen­bruchs im Rönt­gen­bild bleibt unab­hän­gig davon bewie­sen, ob das Rönt­gen­bild in grau­en, blau­en oder roten Schat­tie­run­gen sei­ne Mess­grö­ßen auf­zeigt. Wenn bei­spiels­wei­se eine Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­fie im Bild mehr rot, grün oder blau anmu­tet, dann ver­än­dert dies die natur­wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis einer Rea­li­tät nicht. Immer besteht die Ratio­na­li­tät der visu­el­len Argu­men­ta­ti­on hin­sicht­lich phy­si­ka­li­scher Mess­grö­ßen dar­in, die­se als Rea­li­täts­be­weis hin­sicht­lich des Bil­des anzu­er­ken­nen und mit­tels der ver­ba­len Spra­che zu ver­deut­li­chen, wel­che Mes­sung visua­li­siert wur­de. Die visua­li­sier­ten Mess­grö­ßen in bild­ge­ben­den Ver­fah­ren benö­ti­gen daher die sprach­li­chen Begrif­fe der for­ma­len Logik um im wis­sen­schaft­li­chem Kon­text zu bewei­sen, dass z. B. Rönt­gen­bil­der eine medi­zi­ni­sche Rea­li­tät zei­gen, die der all­täg­li­che Blick auf ein gebro­che­nes Bein nicht bewei­sen kann.

Die Beson­der­heit der Mess­grö­ßen in bild­ge­ben­den Ver­fah­ren for­mu­liert Peirce in der prag­ma­ti­schen Zei­chen­di­men­si­on als einen Inter­pre­tan­ten­be­zug, den er »Dicent«[42] nennt. Ein Dicent (lat. dico: zei­gen, sagen, behaup­ten) iden­ti­fi­ziert ein Objekt und behaup­tet des­sen rea­le Exis­tenz. Der Dicent im Inter­pre­tan­ten­be­zug behaup­tet sei­ne kau­sa­le Wech­sel­wir­kung mit Mess­grö­ßen, die Pixel für Pixel inde­xi­ka­lisch im Bild ursäch­lich ange­zeigt wer­den. Der Dicent mar­kiert also die inter­pre­tier­te Bedeu­tung eines Zei­chens, dass ein evi­den­ter Sach­ver­halt vor­liegt und die­ser als wahr oder unwahr ent­schie­den wer­den kann. Alle Natur­wis­sen­schaf­ten nut­zen die­se Form des ent­scheid­ba­ren Bewei­ses als wis­sen­schaft­li­che Metho­de für empi­ri­sche Forschungen.

Bil­der der künst­le­ri­schen Male­rei basie­ren auf den For­men, die ein Künst­ler kraft sei­ner Krea­ti­vi­tät dar­stellt. Der Maler ent­wi­ckelt sei­ne Krea­ti­vi­tät unab­hän­gig von Mess­grö­ßen, obgleich er es in der per­spek­ti­vi­schen Zeich­nung ver­su­chen könn­te, so exakt wie ein Foto­ap­pa­rat foto­rea­lis­tisch zu zeich­nen. Die Ent­scheid­bar­keit, ob ein Bild auf Mess­grö­ßen oder auf mensch­li­cher Krea­ti­vi­tät beruht, berührt eben­falls die Über­zeu­gungs­kraft der visu­el­len Argu­men­ta­ti­on. Bil­der, die auf der Kau­sa­li­tät von Mess­grö­ßen beru­hen, haben eine ungleich höhe­re Über­zeu­gungs­kraft als künst­le­ri­sche Bil­der, wenn natur­wis­sen­schaft­li­che Tat­sa­chen bewie­sen wer­den sol­len. Im euro­päi­schen Mit­tel­al­ter wur­den bei­spiels­wei­se Ele­fan­ten ohne Vor­bil­der oft nach sprach­li­chen Beschrei­bun­gen gezeich­net. Heut­zu­ta­ge wir­ken die­se mit­tel­al­ter­li­chen Ele­fan­ten­bil­der skur­ril, weil sie sehr von der Rea­li­täts­dar­stel­lung abwei­chen, wie die Mess­grö­ßen der Licht­bild­ne­rei uns einen Ele­fan­ten iko­nisch zei­gen. Jede Fol­ge­be­reit­schaft von Rezi­pi­en­ten steht und fällt grund­sätz­lich damit, wie kul­tu­rel­le Kon­ven­tio­nen in einer Bild­lo­gik ein­ge­hal­ten wer­den. Bei­spiels­wei­se ver­führt die Digi­tal­fo­to­gra­fie bis heu­te vie­le Rezi­pi­en­ten dazu, sie als einen Rea­li­täts­be­weis anzu­er­ken­nen, obgleich vie­le wis­sen, wie ein­fach sie zu mani­pu­lie­ren ist.

Die Logik von Bil­dern basiert im künst­le­ri­schen Typus und im Typus der Mess­grö­ßen auf der Über­zeu­gungs­kraft eines über­wäl­ti­gen­den Argu­ments, das vor aller Argu­men­ta­ti­on einer for­ma­len Logik über­zeu­gen soll. Beruht ein Bild auf der Kau­sa­li­tät von Mess­grö­ßen, dann ist hier­in sein über­wäl­ti­gen­des Argu­ment zu erken­nen, da ihm kein Gegen­bild gegen­über­steht. Beruht ein Bild auf der Krea­ti­vi­tät des Kom­mu­ni­ka­tors, dann erzielt es eine Fol­ge­be­reit­schaft, weil die Bild­äs­the­tik dem Betrach­ter sub­jek­tiv gefällt. Bei­spiels­wei­se kann ein Foto die Tat­sa­che eines scheuß­li­chen Mor­des bewei­sen, aber gleich­zei­tig ekelt es den Betrach­ter an und über­zeugt inso­fern nicht ästhe­tisch. Die heu­ti­ge, com­pu­ter­un­ter­stütz­te Bild­be­ar­bei­tung mar­kiert noch­mals die beson­de­re Über­zeu­gungs­kraft der Digi­tal­fo­to­gra­fie, weil deren Mess­grö­ßen in hohem Maße durch die Krea­ti­vi­tät des Kom­mu­ni­ka­tors ästhe­ti­siert wer­den kön­nen, um den Rezi­pi­en­ten zu gefal­len. Die Digi­tal­fo­to­gra­fie ver­bin­det also die visu­el­le Argu­men­ta­ti­on sowohl mit­tels Mess­grö­ßen als auch mit­tels kul­tu­rel­ler Kon­ven­tio­nen, so dass ein Foto bei­des ästhe­tisch als eine Logik von Bil­dern »exem­pli­fi­ziert«[43]. Trotz der Ver­bin­dung zwei­er Bild­ty­pen erhält die Digi­tal­fo­to­gra­fie in sei­ner Logik kei­ne höhe­re Gel­tung. Auch für die Digi­tal­fo­to­gra­fie mar­kiert der Inter­pre­tan­ten­be­zug »Dicent« die höchst mög­li­che Über­zeu­gungs­kraft, die Bil­der als »über­wäl­ti­gen­des Argu­ment« einer Logik von Bil­dern errei­chen kön­nen. An den Anfor­de­run­gen, wie sie eine Argu­men­ta­ti­on in der for­ma­len Logik for­dert, schei­tern alle Bil­der grund­sätz­lich. Bil­der ver­füh­ren, wenn ihre bild­haf­te Logik kraft­voll wirkt und sie damit jede for­ma­le Logik unterlaufen.