Essay
Das Sehen des Horizontes
Über das Versöhnliche ungeahnter Perspektiven
Er ist da und doch nicht da. Er ist nicht zu fassen, aber in wechselnden Konturen allgegenwärtig; mal näher, mal weiter entfernt, mal mehr, mal weniger deutlich zu sehen, im Sonnenschein klar umrissen oder von Regenschauern verwischt.
Eben noch verfing sich der Blick von der Anhöhe in den nahen Baumkronen, die mit bizarrem Geäst in tief hängende Nebelschwaden stachen. Wenig später hat sich der Vorhang vor einer weiträumigen Gegend gehoben. Die geschwungene Kammlinie einer Hügelkette grenzt die sichtbare Erdoberfläche gegen den leicht verschleierten Himmel ab. Davor Wiesen von blassem Gelbgrün, Felder wie dämmernde Matten, verstreute, teils ineinander übergehende Ortschaften, raumgreifende Anhäufungen von schachtelförmigen Gewerbebauten, dazwischen Straßen, Schienen, Überlandleitungen, hier und da ein blitzender Reflex, Wälder in vielfältig getöntem Blau, der Fluss wie ein silbern Band.
Die zusammengewürfelte Gegenstandswelt, das Neben- und Durcheinander ihrer heterogenen Bestandteile wird gewissermaßen versöhnlich umrahmt von einem Horizont, der dieser Gegend scheinbar zeitloses Profil gibt. Man könnte deren Anblick auf sich beruhen lassen, hätte er sich nicht plötzlich schon wieder verändert.
Zeigte sich vereinzelt über die Kammlinie Hinausragendes – Kirchtürme, Strommasten, Hochregallager, Silotürme – noch erkennbar mit dem Hügelrücken verbunden, so ist jetzt unter jäh aufgerissenem Himmel eine fernere Ferne übergangslos eingedrungen. Über allem, was sich zum Gesamteindruck der Gegend zusammengeschlossen hatte, erscheinen nun, abgehoben in unwirklicher Schwebe, die schneebedeckten Gipfel des Hochgebirges, unbegreiflich nah und entrückt zugleich. Blendend weiß reflektieren die zerklüfteten Bergflanken das Sonnenlicht. Die vom Föhn scharf in den Himmel gezeichneten Konturen der Gipfelkette setzen dem Blick von neuem eine Grenze. Diese Trennlinie zwischen Himmel und Erde scheint jedoch weniger das im Vordergrund ausgebreitete Hügelland abzuschließen als vielmehr eine ganz andere Welt zu eröffnen. Etwas Herausforderndes geht von ihr aus. Lockt doch zum einen die Gefahr, sich elementarer Naturgewalt auszusetzen, zum anderen die Verheißung, Freiheit der Bewegung und des Blicks zu genießen. Die Lust, vom Berg zu schauen hat indes ihre Geschichte. Sie setzt nicht nur topographisch erheblichen Abstand zum Alltag mit seinen Lebensnotwendigkeiten voraus.