Essay

Drei Fragezeichen zur rhetorischen Evidentia

Warum es um Bildlichkeit geht und sie nicht alles ist

Von Annina Schneller


Die drei auf­zu­wer­fen­den Fra­gen betref­fen die von Bernd Stein­brink in Bern vor­ge­stell­te Les­art der Geschich­te der Evi­den­tia, umkrei­sen aber auch ganz grund­sätz­lich den Begriff der Evi­den­tia selbst.

1 Geht es bei der Evi­den­tia immer um Affekterregung?

Bei der Ergrün­dung von Evi­denz in der Rede (Evi­den­tia) tau­chen in der Rhe­to­rik­ge­schich­te immer wie­der die zwei Begrif­fe enérgeia und enárgeia auf. Bei­na­he gleich­klin­gend, wer­den sie auch inhalt­lich weder klar unter­schie­den noch ein­heit­lich ver­wen­det. Doch las­sen sich aus den bei­den Begrif­fen wie­der­um zwei unter­schied­li­che Aspek­te von Evi­den­tia ablei­ten: Evi­denz wird zum einen durch Leb­haf­tig­keit oder Ver­le­ben­di­gung erzeugt, wenn bei­spiels­wei­se etwas Unbe­seel­tes als beseelt beschrie­ben wird, zum ande­ren durch Deut­lich­keit oder Detail­lie­rung, etwa die Auf­zäh­lung von Ein­zel­de­tails eines Ereig­nis­ses in der Rede. Beim Aspekt der Leb­haf­tig­keit scheint die Ver­bin­dung zur Affekt­er­zeu­gung nahe­lie­gend, da mit einer leben­di­gen Dar­stel­lung nicht nur der Aus­druck, son­dern auch die Erleb­nis­qua­li­tät gestei­gert wird. Der zwei­te Aspekt, die Deut­lich­keit, zielt jedoch zumin­dest vor­der­grün­dig nicht auf die Affek­te, son­dern dient vor allem der Ver­deut­li­chung einer Aus­sa­ge. Hier wäre die Absicht also erst ein­mal eine basal kom­mu­ni­ka­ti­ve, näm­lich das Ver­ste­hen zu för­dern, bei der es nicht zwin­gend um Affekt­er­re­gung geht. Evi­den­tia wäre somit ein Ele­ment der Tugen­den des Spre­chens über­haupt, das noch vor dem Rede­schmuck und den ver­schie­de­nen For­men der Affekt­er­zeu­gung käme.

Wenn man ein von Quin­ti­li­an (Inst. Orat. VIII 3, 67—69) genann­tes Bei­spiel für Evi­den­tia anschaut, wird aber klar, dass auch Detail­reich­tum oft mit dem Gene­rie­ren einer Affekt­wir­kung ein­her­geht. So ist die knap­pe Nach­richt »Die Stadt wur­de erobert« nicht nur weni­ger ein­gän­gig, son­dern auch weni­ger bewe­gend als eine detail­rei­che Beschrei­bung der ein­zel­nen Vor­gän­ge der Stadt­erobe­rung: das Flam­men­meer, das Kra­chen der ein­stür­zen­den Dächer, die schrei­en­den und wei­nen­den Kin­der usw. Erst im Detail ent­fal­tet sich das gan­ze Aus­mass der Tra­gö­die und ein »Gefühl des Jam­mers« beim Zuhö­rer (a. a. O., 67). Die affek­ti­ve Wir­kung ist hier­bei jedoch auch der Emo­tio­na­li­tät und Kom­ple­xi­tät der geschil­der­ten Gescheh­nis­se selbst zuzu­schrei­ben. Wür­de im Gegen­satz dazu eine öde Sze­ne­rie, z. B. der Arbeits­all­tag eines Büro­an­ge­stell­ten, ähn­lich detail­liert beschrie­ben, so führ­te dies eher zu Mono­to­nie und Lan­ge­wei­le. Aller­dings müss­te wohl auch die­se Reak­ti­on als affek­tiv gelten.

Die Ver­bin­dung von Evi­den­tia und Affekt­er­re­gung scheint jedoch nicht not­wen­dig zu sein. Evi­denz lässt sich zunächst ein­mal unab­hän­gig von der affek­ti­ven Wir­kung auf for­ma­ler Ebe­ne fest­stel­len, z. B. wenn kon­kre­ti­sie­ren­de Beschrei­bun­gen gehäuft auf­tre­ten oder mensch­li­che Adjek­ti­ve für Natur­phä­no­me­ne ver­wen­det wer­den. Erst dann ist von Fall zu Fall zu schau­en, ob und in wel­cher Wei­se dadurch Affek­te ange­regt wer­den sol­len und kön­nen. Evi­den­tia wäre dann eher zu ver­ste­hen im Sin­ne einer Ver­stär­kungs­tech­nik, um die jeweils inten­dier­te Wir­kung zu erhö­hen, sei die­se nun affek­tiv oder ratio­nal oder sei sie auf Jam­mer, Lan­ge­wei­le oder größt­mög­li­che Ver­ständ­lich­keit angelegt.

2 Geht es bei der Evi­den­tia immer um Realitätserzeugung?

Cice­ros Vor­stel­lung von Evi­den­tia als Vor-Augen-Füh­ren oder Unmit­tel­bar-vor-Augen-Stel­len (»sub aspec­tum pae­ne subiec­tio«, De orat. III, 202; von Quin­ti­li­an in der Wen­dung »sub ocu­los subiec­tio« noch ver­stärkt, Inst. Orat. IX 2, 40) deu­tet dar­auf hin, dass Evi­den­tia eine Form von Rea­li­tät oder Unmit­tel­bar­keit erzeugt. Der Sach­ver­halt wird nicht ein­fach aus­ge­sagt, son­dern vor­ge­führt, ja, das Ereig­nis soll von Rhe­tor und Publi­kum qua­si erlebt oder durch­lebt wer­den. Es soll nicht als gesche­hen vor­ge­führt wer­den, son­dern eben so, wie es gesche­hen ist, als wür­de es in die­sem Moment erst statt­fin­den (Quint. Inst. Orat. IX 2, 40—43). Eine evi­den­te Dar­stel­lung ver­sucht, an den Seh­ein­druck des Ereig­nis­ses her­an­zu­rei­chen, »ein Gesamt­bild der Din­ge abzu­zeich­nen« und somit die Zuhö­rer qua­si zu Augen­zeu­gen zu machen (ibid. VIII 3, 62—63).