Mythen des Alltags

Das Bücherregal

Von entzückenden Rücken

Von Christian Witt


Tref­fen sich Aris­to­te­les, Karl Marx und Win­ne­tou. Das ist nicht der Beginn eines Kalau­ers, son­dern all­täg­li­che Rea­li­tät in zwei­fel­los tau­sen­den deut­schen Woh­nun­gen – wenn in ihnen ein Bücher­re­gal steht. So ein Regal erschöpft sich nicht in sei­ner Funk­ti­on als Kupp­ler für gro­ße Namen. Es ist in glei­chem Maße Ord­nungs­in­stru­ment für Druck­wer­ke als auch Gedan­ken, erzählt vom Cha­rak­ter sei­nes Eigen­tü­mers und besitzt zugleich selbst aus­rei­chend Per­sön­lich­keit, um schon mal einen all­seits bekann­ten Ruf­nah­men wie »Bil­ly« zu erhalten.

Phi­lo­so­phen und India­ner­häupt­lin­ge tau­gen nur bedingt zur Kon­struk­ti­on eines Wit­zes, doch geben sie dem geüb­ten Bücher­re­gal-Foren­si­ker umfang­reich Auf­schluss über den Besit­zer des Möbels: Geschlecht, Alter, Bil­dungs­stand, Beruf, poli­ti­sche wie reli­giö­se Ori­en­tie­rung, nicht sel­ten auch kuli­na­ri­sche und sexu­el­le Vor­lie­ben – eine aus­rei­chend gro­ße Men­ge an Büchern erteilt nicht sel­ten mehr Aus­kunft über ihren Besit­zer, als Fin­ger­ab­druck und Dop­pel­he­lix es tun. Wo bei Such­ma­schi­nen und sozia­len Netz­wer­ken ledig­lich von »Nut­zer­pro­fi­len« die Rede ist, kann die Unter­su­chung eines Bücher­re­gals zu ganz unter­schied­li­chen Erkennt­nis­sen führen.

Ein visu­ell ver­an­lag­ter Regal­be­sit­zer wird sei­ne Bücher nach Far­ben sor­tie­ren, ein Pedant alpha­be­tisch nach Autor oder Titel und ein Prag­ma­ti­ker womög­lich schlicht nach Dicke und For­mat der Publi­ka­ti­on: »Da war noch Platz.« Nicht zu ver­ges­sen sind auch die­je­ni­gen Anar­chis­ten und Frei­geis­ter, denen jede Ord­nung ihrer Druck­sa­chen dem Beschnitt der per­sön­li­chen Frei­heit gleichkommt.

Ein über­eif­ri­ger Samm­ler hin­ge­gen – land­läu­fig auch als Bücher­narr bekannt – ist schon mal dazu gezwun­gen, die Wer­ke in meh­re­ren Rei­hen hin­ter­ein­an­der auf­zu­be­wah­ren. Ein Tra­di­tio­na­list wird nach Mög­lich­keit Schutz­um­schlä­ge aus sei­ner Biblio­thek ver­ban­nen (weil die­se bekannt­lich nur der Bewer­bung eines Buches die­nen und nach dem Kauf ihrer Daseins­be­rech­ti­gung beraubt sind); und einer, der mit sei­nen Büchern arbei­tet, ver­sieht sei­ne Biblio­thek gern mit dem Orna­ment unzäh­li­ger gel­ber Haft­no­ti­zen, die zu allen Sei­ten aus den Buch­blö­cken blitzen.

Die Poseu­re wol­len wir außen vor las­sen, all jene näm­lich, die sich nur zum Schein mit Stan­dard­wer­ken ein­de­cken oder dar­auf bedacht sind, mit gro­ßen Namen im Regal ledig­lich den Anschein von Bele­sen­heit zu erwecken. 

Doch die Grund­vor­aus­set­zung für die­se Dif­fe­ren­zie­run­gen ist alle­mal, dass das Bücher­re­gal über­haupt erst den Weg in die hei­mi­schen vier Wän­de gefun­den hat. Ein flüch­ti­ger Blick zurück offen­bart, dass, wie so oft, der mecha­ni­sche Buch­druck des Johan­nes Gens­fleisch – bes­ser bekannt unter dem Namen Guten­berg – die­se Ent­wick­lung über­haupt ermög­licht hat. Wo zuvor die offe­ne Auf­be­wah­rung der unbe­zahl­ba­ren gebun­de­nen Tex­te undenk­bar erschien und nicht sel­ten eine schwe­re Ket­te das Buch an Ort und Stel­le fixier­te, schu­fen der Fort­schritt der Tech­nik und die flä­chen­de­cken­de Alpha­be­ti­sie­rung über­haupt erst die Not­wen­dig­keit für »Bil­ly« und des­sen Hartholzvorfahren.


Doppelausgabe Nr. 16 und 17, Herbst 2020

Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.