Mythen des Alltags
Das Bücherregal
Von entzückenden Rücken
Treffen sich Aristoteles, Karl Marx und Winnetou. Das ist nicht der Beginn eines Kalauers, sondern alltägliche Realität in zweifellos tausenden deutschen Wohnungen – wenn in ihnen ein Bücherregal steht. So ein Regal erschöpft sich nicht in seiner Funktion als Kuppler für große Namen. Es ist in gleichem Maße Ordnungsinstrument für Druckwerke als auch Gedanken, erzählt vom Charakter seines Eigentümers und besitzt zugleich selbst ausreichend Persönlichkeit, um schon mal einen allseits bekannten Rufnahmen wie »Billy« zu erhalten.
Philosophen und Indianerhäuptlinge taugen nur bedingt zur Konstruktion eines Witzes, doch geben sie dem geübten Bücherregal-Forensiker umfangreich Aufschluss über den Besitzer des Möbels: Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Beruf, politische wie religiöse Orientierung, nicht selten auch kulinarische und sexuelle Vorlieben – eine ausreichend große Menge an Büchern erteilt nicht selten mehr Auskunft über ihren Besitzer, als Fingerabdruck und Doppelhelix es tun. Wo bei Suchmaschinen und sozialen Netzwerken lediglich von »Nutzerprofilen« die Rede ist, kann die Untersuchung eines Bücherregals zu ganz unterschiedlichen Erkenntnissen führen.
Ein visuell veranlagter Regalbesitzer wird seine Bücher nach Farben sortieren, ein Pedant alphabetisch nach Autor oder Titel und ein Pragmatiker womöglich schlicht nach Dicke und Format der Publikation: »Da war noch Platz.« Nicht zu vergessen sind auch diejenigen Anarchisten und Freigeister, denen jede Ordnung ihrer Drucksachen dem Beschnitt der persönlichen Freiheit gleichkommt.
Ein übereifriger Sammler hingegen – landläufig auch als Büchernarr bekannt – ist schon mal dazu gezwungen, die Werke in mehreren Reihen hintereinander aufzubewahren. Ein Traditionalist wird nach Möglichkeit Schutzumschläge aus seiner Bibliothek verbannen (weil diese bekanntlich nur der Bewerbung eines Buches dienen und nach dem Kauf ihrer Daseinsberechtigung beraubt sind); und einer, der mit seinen Büchern arbeitet, versieht seine Bibliothek gern mit dem Ornament unzähliger gelber Haftnotizen, die zu allen Seiten aus den Buchblöcken blitzen.
Die Poseure wollen wir außen vor lassen, all jene nämlich, die sich nur zum Schein mit Standardwerken eindecken oder darauf bedacht sind, mit großen Namen im Regal lediglich den Anschein von Belesenheit zu erwecken.
Doch die Grundvoraussetzung für diese Differenzierungen ist allemal, dass das Bücherregal überhaupt erst den Weg in die heimischen vier Wände gefunden hat. Ein flüchtiger Blick zurück offenbart, dass, wie so oft, der mechanische Buchdruck des Johannes Gensfleisch – besser bekannt unter dem Namen Gutenberg – diese Entwicklung überhaupt ermöglicht hat. Wo zuvor die offene Aufbewahrung der unbezahlbaren gebundenen Texte undenkbar erschien und nicht selten eine schwere Kette das Buch an Ort und Stelle fixierte, schufen der Fortschritt der Technik und die flächendeckende Alphabetisierung überhaupt erst die Notwendigkeit für »Billy« und dessen Hartholzvorfahren.