Ausgabe Nr. 21, Herbst 2022: Essay

Die GIGA-Adaptionsmethode

Aptum: Stilschulung im Hochschulschreibunterricht

Von Monika Oertner


1 Aus­gangs­la­ge: Schrei­ben als Qual

Die Gefüh­le, die Stu­die­ren­de an einer ange­wand­ten Hoch­schu­le ihrem eige­nen Schrei­ben ent­ge­gen­brin­gen, sind erfah­rungs­ge­mäß[1] oft nega­tiv. Abb. 1 zeigt ein typi­sches Mei­nungs­bild, wie es 2021 bei einer Erst­se­mes­ter­ver­an­stal­tung im Fach Wirt­schafts­in­ge­nieur­we­sen Maschi­nen­bau ein­ge­holt wur­de[2]. Zwar gibt es eini­ge Stim­men, die die Nütz­lich­keit des Schrei­bens her­vor­he­ben und des­sen kom­mu­ni­ka­ti­ve, epis­te­mi­sche, doku­men­ta­ri­sche oder krea­ti­ve Funk­ti­on benen­nen, doch sind die vor­nehm­li­chen Asso­zia­tio­nen Anstren­gung, Mühe und Qual. Ableh­nung und Ver­wei­ge­rung wer­den offen geäu­ßert, in die­ser anony­men digi­ta­len Umfra­ge eben­so deut­lich wie sonst im Unterrichtsgespräch.

Abbildung 1: Meinungsbild unter Wirtschaftsingenieuren

Abbil­dung 4: Arbeits­blatt zur Grup­pen­übung (Aus­schnitt)

Wie kommt es nach zwölf Jah­ren Deutsch­un­ter­richt mit all sei­nen Auf­sät­zen, Erör­te­run­gen und Inter­pre­ta­tio­nen zu die­sem ver­hee­ren­den Stim­mungs­bild? Offen­bar ver­mag das Schul­fach bei vie­len kei­ne nach­hal­ti­ge Begeis­te­rung zu wecken, weder für die frei­wil­li­ge Beschäf­ti­gung mit Lite­ra­tur[3] noch für das aka­de­mi­sche Schrei­ben, noch für die beruf­li­chen Schreib­auf­ga­ben, die unver­meid­lich zu erfül­len sein wer­den und Kar­rie­re­chan­cen mitentscheiden.

Dass Umfang und Bedeu­tung des Schrei­bens in so gut wie jedem Beruf im Wach­sen begrif­fen sind, ist als Fol­ge der Digi­ta­li­sie­rung und der Ver­recht­li­chung der Arbeits­welt schlicht­weg ein Fak­tum. Die damit ein­her­ge­hen­de Ver­schrift­li­chung bedeu­te­te einen enor­men Anstieg der kom­mu­ni­ka­ti­ven, doku­men­ta­ri­schen, ver­trag­li­chen, daten­schutz­recht­li­chen und buch­hal­te­ri­schen Vor­gän­ge. Den Stu­die­ren­den ist dies oft nicht bewusst, viel­mehr hof­fen sie, etwa durch die Wahl eines tech­ni­schen Stu­di­en­fachs, dem Schrei­ben ein für alle­mal ent­ron­nen zu sein – ein Trug­schluss, beschäf­ti­gen sich doch z. B. Inge­nieu­re weit über die Hälf­te ihrer Arbeits­zeit mit der Lek­tü­re und Erstel­lung anfor­de­rungs­rei­cher Text­sor­ten[4].

Ist die Genie-Ästhe­tik ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te – »Poe­ta nas­ci­tur, non fit«[5] – eine wei­te­re Ursa­che für das schlech­te Image des Schrei­bens bei den Stu­die­ren­den? Die Vor­stel­lung, dass sich beim Schrei­ben das ange­bo­re­ne Talent zei­ge oder eben nicht, kann in Kom­bi­na­ti­on mit ver­gan­ge­nen Miss­erfol­gen tat­säch­lich tie­fe Selbst­zwei­fel und Mut­lo­sig­keit erzeugen.

Eine pas­sen­de Replik dar­auf lie­fert Heming­way, der in Bezug auf sein eige­nes Schrei­ben gesagt haben soll: “The first draft of any­thing is sh.”[6]. Im Unter­richt ver­wen­det, offen­bart die­ses Zitat, dass auch bei genia­len Welt­schrift­stel­lern die Arbeit am Text mit der Roh­fas­sung beginnt – und nicht etwa endet. Um fal­schen Vor­stel­lun­gen zu begeg­nen, ist es wich­tig, die­se für Schreib­ex­per­ten so selbst­ver­ständ­li­che Tat­sa­che im Unter­richt expli­zit zu machen.

2 Münd­lich­keit ver­sus Schriftlichkeit

Die wich­tigs­te Ursa­che für die stu­den­ti­sche Schreib­un­lust offen­bart sich, sobald man die Sprech- mit der Schreib­si­tua­ti­on ver­gleicht. Im münd­li­chen Gespräch voll­zieht sich ein unbe­wuss­ter, sub­ti­ler und fort­wäh­ren­der Anpas­sungs­pro­zess[7], der eine umfang­rei­che Palet­te an Zuschrei­bun­gen über Wis­sen und Vor­lie­ben, Stim­mun­gen, Emp­fäng­lich- und Emp­find­lich­kei­ten des Gegen­übers ein­be­zieht. Über Jahr­zehn­te haben sich Empa­thie und Men­schen­kennt­nis, Takt­ge­fühl und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, Höf­lich­keit und Umgangs­for­men in uns ent­wi­ckelt und ver­fei­nert. In der Sprech­si­tua­ti­on erlaubt uns die­ses hoch­ent­wi­ckel­te Ver­mö­gen eine auto­ma­ti­sche Anpas­sung des Sprach­ni­veaus, meist unbe­merkt und mühe­los, obgleich es uns auch mög­lich ist, den Vor­gang bewusst zu steu­ern und wahrzunehmen.

In der Schreib­si­tua­ti­on feh­len die Aus­lö­ser, die den beschrie­be­nen Adap­ti­ons-Auto­ma­tis­mus in Gang set­zen könn­ten. Wir sehen kein Gesicht, kei­ne Mimik und Ges­tik, wir hören kei­nen Ton­fall und erhal­ten auch sonst kei­ne Signa­le, die uns hel­fen könn­ten, uns in die Situa­ti­on ein­zu­fin­den. Statt­des­sen sehen wir einen lee­ren Bild­schirm oder ein wei­ßes Blatt Papier. Die Schwie­rig­kei­ten vie­ler Stu­die­ren­der, über­haupt ins Schrei­ben zu kom­men und dann noch den rech­ten Ton zu tref­fen, erschei­nen vor die­ser Folie all­zu verständlich.

  1. [1] Die Ver­fas­se­rin lehrt seit über einem Jahr­zehnt wis­sen­schaft­li­ches Schrei­ben an der HTWG Kon­stanz, einer Hoch­schu­le für ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten, die tech­ni­sche, wirt­schaft­li­che und gestal­te­ri­sche Fächer unter ihrem Dach vereint. 
  2. [2] Anony­me Online-Umfra­ge 2021 via Men­ti­me­ter unter 25 Erste­mes­ter­stu­die­ren­den im Fach Wirt­schafts­in­ge­nieur­we­sen Maschi­nen­bau an der Hoch­schu­le Kon­stanz, Mehr­fach­ant­wor­ten möglich. 
  3. [3] Bei einer nicht-reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­ge unter 23 Stu­die­ren­den im Stu­di­um gene­ra­le der Hoch­schu­le Kon­stanz gaben 2021 80 % an, nie­mals Erzähl­li­te­ra­tur zur Hand zu neh­men. 20 % lesen hin­ge­gen täg­lich und teil­wei­se über eine Stun­de. Die­se Anga­be deckt sich mit der Erfah­rung aus diver­sen Lese­work­shops: auf die Fra­ge nach einer Buch­emp­feh­lung für die Kom­mi­li­to­nen ant­wor­te­te ein Groß­teil der Teil­neh­men­den ent­we­der mit einem Selbst­op­ti­mie­rungs­rat­ge­ber oder wuss­te gar kei­nen Titel zu nen­nen. Roma­ne, das eigent­lich inten­dier­te Ziel der Fra­ge, wur­den nur von ver­ein­zel­ten Teil­neh­men­den emp­foh­len. Dabei han­del­te es sich dann vor allem um eng­lisch­spra­chi­ge Thriller. 
  4. [4] VDI-Richt­li­ni­en­au­tor Eber­sold zählt fol­gen­de inge­nieur­ty­pi­sche Schreib­an­läs­se auf: »Es fal­len sehr ver­schie­de­ne Text­sor­ten an. Da gibt es zum einen Berich­te und Pro­to­kol­le, den Mail­ver­kehr und Prä­sen­ta­tio­nen, die man bei­na­he täg­lich zu erstel­len hat. (…) Dann gibt es die (…) Tech­ni­sche Doku­men­ta­ti­on als Text­sor­te. Sie beinhal­tet ins­be­son­de­re Kon­struk­ti­ons­be­schrei­bun­gen, (…) über­aus umfas­sen­de und kom­ple­xe Soft­ware­do­ku­men­ta­tio­nen, (…) Nor­men und Richt­li­ni­en, Spe­zi­fi­ka­tio­nen, Beschrei­bun­gen von bei­spiels­wei­se Berech­nungs­vor­gän­gen, dann aber auch tech­ni­sche Vor­ga­ben für die Pro­duk­ti­on und (…) Qua­li­täts­si­che­rung (…), sehr viel Test­do­ku­men­ta­ti­on usw.« (Eber­sold, Schef­fel 2021, S. 44). Zu Stu­di­en zum Zeit­auf­wand für Schreib­auf­ga­ben im Inge­nieur­be­ruf vgl. Brandt 2013, S. 3–4.
  5. [5] »Der Dich­ter wird gebo­ren, nicht gemacht«, anti­ker Apho­ris­mus umstrit­te­nen Ursprungs; Pro­ve­ni­enz­for­schung lie­fert Rin­gler 1941. 
  6. [6] Zit. nach Heming­ways Freund Samu­el­son 1984, S. 11. 
  7. [7] Zur Dyna­mik die­ses Modi­fi­ka­ti­ons­pro­zes­ses, der fort­wäh­ren­den Syn­chro­ni­sa­ti­on zwi­schen den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­nern und dem Aus­han­deln von Ange­mes­sen­heit, vgl. Bülow und Krieg-Holz, die die »eth­no­gra­fisch-inter­ak­tio­na­le() und prag­masti­lis­ti­sche() Per­spek­ti­ve« (Bülow, Krieg-Holz 2015, S. 111) auf den Vor­gang zusammenführen. 

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