Buchbesprechung

Bilder schaffen neue und bedrohen alte Werte

William J. T. Mitchell schreibt über den »pictural turn«

Was sind Bil­der heu­te? Und wie unter­schei­den sie sich von Wort und Text? Wil­liam John Tho­mas Mit­chell ist einer der Begrün­der der »Visu­al Cul­tu­re Stu­dies« und Pro­fes­sor für Kunst­ge­schich­te und Eng­lisch an der Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go. Schon wäh­rend sei­nes Stu­di­ums befass­te er sich mit dem Zusam­men­hang von Wort und Bild. Bis­her erschie­nen weni­ge Tex­te von ihm in deut­scher Spra­che. Mit dem Band »Bild­theo­rie« (Suhr­kamp Ver­lag) ist seit 2008 die­se Lücke jedoch geschlos­sen. In die­sem Buch sind Mit­chells wich­tigs­ten Bei­trä­ge der letz­ten zwan­zig Jah­re ver­eint, unter ande­rem auch aus sei­ner bekann­ten Publi­ka­ti­on »Ico­no­lo­gy«. Er befasst sich mit dem Pro­blem, dass die nöti­gen Instru­men­te feh­len, um kom­ple­xe Zusam­men­hän­ge von Bild und Text zu beschreiben.

Mit­chell ana­ly­siert in sei­nen Auf­sät­zen sowohl ganz prak­ti­sche Pro­duk­te und Bild­wel­ten aus dem All­tag als auch theo­re­ti­sche Tex­te von Pli­ni­us und Fou­cault. Dar­aus ent­wi­ckelt sich nicht nur die Fra­ge, was Bil­der sind, son­dern auch, war­um sie uns so beein­flus­sen und fas­zi­nie­ren. War­um kön­nen sie uns zu bestimm­ten Ver­hal­tens­wei­sen bewe­gen, uns in die Irre füh­ren und ver­füh­ren? Und wol­len Bil­der wirk­lich etwas von uns – oder wol­len nicht viel eher wir etwas von Bildern?

Der Ein­band ist schwarz mit eini­gen wei­ßen Flä­chen, die zusam­men betrach­tet ein Gesicht, viel­leicht eine Mas­ke erge­ben und eine Hand, die schein­bar nach dem Leser greift. Schon hier lässt sich erah­nen, dass die­ses Buch sich nicht mit der klas­si­schen Bild­wis­sen­schaft beschäf­tigt, son­dern neue, abs­trak­te Wege gehen will.

Ein wich­ti­ger Begriff, den Mit­chell geprägt hat, ist »pic­tu­ral turn«, womit der Wan­del von einer text­ori­en­tier­ten zu einer bild­ge­präg­ten Gesell­schaft gemeint ist, wie er in den letz­ten Jahr­zehn­ten statt­ge­fun­den hat. Dabei stellt Mit­chell zwar die von Bil­dern über­flu­te­te Welt dar, ver­mei­det aber, die­ses Phä­no­men zu ver­dam­men oder Angst davor zu machen. Den­noch plä­diert er, sich kri­tisch mit die­sem The­ma aus­ein­an­der­zu­set­zen und die zuneh­men­de Ver­bild­li­chung zu hin­ter­fra­gen. »CNN hat uns gezeigt, dass eine schein­bar auf­merk­sa­me, gebil­de­te Bevöl­ke­rung (zum Bei­spiel die ame­ri­ka­ni­sche Wirt­schaft) die Zer­stö­rung einer gan­zen ara­bi­schen Nati­on als kaum mehr als ein spek­ta­ku­lä­res Fern­seh­me­lo­dram inklu­si­ve der simp­len Erzäh­lung vom Tri­umph des Guten über das Böse und einer raschen Aus­lö­schung aus dem öffent­li­chen Gedächt­nis erle­ben kann.« (S.107)

Der Autor distan­ziert sich von der Semio­tik als erklä­ren­des Instru­ment. Er spricht viel­mehr Bil­dern eine eige­ne Meta­spra­che zu, die die­se sogar selbst mit­lie­fern. Die­se Meta­spra­che basiert haupt­säch­lich auf den kul­tu­rel­len Erfah­run­gen und Prä­gun­gen des inter­pre­tie­ren­den Betrachters.

Mit­chell kommt es nicht zwin­gend dar­auf an, eine bestimm­te Lösung zu fin­den oder ein Ziel zu errei­chen. Das Nach­den­ken über die Pro­ble­ma­tik und das Bewusst­sein für die Aus­ein­an­der­set­zung mit Gren­zen zwi­schen Wort und Bild sind ihm wich­tig – der Weg ist das Ziel. Wei­ter­hin beschreibt Mit­chell in sei­nem Auf­satz »Visu­el­le Kul­tur« die Inte­gra­ti­on sei­ner Denk­wei­se in sei­ne Lehr­tä­tig­keit. Stu­den­ten sei­en zu mehr imstan­de als nur Bei­spie­le zu produzieren.
Mit­chell will die Ent­wick­lung hin zum Bild und die Bild­ana­ly­se nicht durch ein­zel­ne Metho­den und Medi­en betrach­ten, son­dern sie in die gesam­te 
visu­el­le Kul­tur ein­ord­nen. Von beson­de­rem Inter­es­se sind dabei Ver­schie­bun­gen in den Wer­ten und Sicht­wei­sen der Men­schen, die laut Mit­chell nicht gezwun­ge­ner­ma­ßen mit der Erfin­dung der Foto­gra­fie, des Films und des Com­pu­ters zusam­men­hän­gen. Denn für ihn ist das Visu­el­le kei­ne neue Erschei­nung der Moder­ne. Mit­chell inter­es­siert, wel­che Auf­nah­me- und 
Ver­ar­bei­tungs­ar­ten sich im Zusam­men­hang unter­schied­li­cher Medi­en ent­wi­ckeln und wel­che Codes und Zei­chen dar­aus ent­ste­hen. Er durch­leuch­tet ver­schie­de­ne Meta­ebe­nen von Bil­dern und bringt dabei sogar den Tot­emis­mus und Ani­mis­mus als Deutungsmöglichkeit.

Mit­chell beschreibt die Rol­le des Bil­des so: »Bil­der neh­men am Spiel der 
Bil­dung und Ver­än­de­rung von Wer­ten aktiv teil. Sie kön­nen neue Wer­te in die Welt ein­füh­ren und dadurch alte bedro­hen.« (S.310) Wer in der Bild­wis­sen­schaft Neu­land betritt, der wird mit Mit­chells Buch sicher kei­ne ein­fa­che Publi­ka­ti­on in Hän­den hal­ten. Den­noch ist sie durch den anspre­chen­den Schreib­stil ange­neh­mer zu lesen als manch ande­res bild­wis­sen­schaft­li­ches Werk. Mit­chell schreibt ohne vie­le Meta­phern, son­dern bevor­zugt exak­te Defi­ni­tio­nen und For­mu­lie­run­gen. Dies führt in der Zusam­men­stel­lung der Auf­sät­ze manch­mal zu Wie­der­ho­lun­gen und Text­ab­schnit­ten mit ähn­li­cher Formulierung.

Trotz der ver­ständ­li­chen Spra­che fiel es mir schwer, in den wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen zu kla­ren neu­en Erkennt­nis­sen zu kom­men. Mit­chell reißt zwar sein Inter­es­se am Schnitt­punkt zwi­schen Wort und Bild an, führt die­ses The­ma aber nicht so aus, wie es sich der Leser viel­leicht vor­stellt. Die Bedeu­tung des Bil­des im gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Zusam­men­hang wird in den Vor­der­grund gestellt, aber kei­ne defi­ni­ti­ve Erklä­rung zum The­ma »Spra­che und Bild« gegeben.