Mythen des Alltags
Das Profilbild
Über die »Selfies der Seele«
Provokant, geheimnisvoll, oberflächlich, intim, tiefgründig oder schlicht eine anonyme, graue Silhouette – das Profilbild hat viele Gesichter.
Fast jeder von uns wird tagtäglich bewusst oder unbewusst mit den Facetten dieses expressiven Ausdrucksmittels der Gegenwart konfrontiert. Ein Miniatur-Porträt, das im digitalen Sozialumgang an die Stelle der eigenen Person tritt, scheint einen festen Platz in der Kommunikation unserer Informationsgesellschaft erlangt zu haben. Die Anonymität des Internets bietet jedem Nutzer die Möglichkeit sich seine eigene, ganz persönliche Maske aufzusetzen - der alltägliche Online-Karneval. Oder sind die kleinen Bildchen vielleicht doch mehr, als nur ein amüsanter Auswuchs der Digitalisierung?
Scrollt man am eigenen Smartphone durch die Chat-Übersicht seiner What’s-App-Kontaktliste, gewinnt man schnell den Eindruck durch die persönlichsten Lebensmomente seiner engsten und weniger engen sozialen Kontakte stöbern zu können - eine Ansammlung von Kühlschrankbildern, Passfotos, Postkartenmotiven, Familienporträts und Sedcard-Shoots. Alles frei zugänglich und willentlich von den Urhebern platziert, zusammengefasst unter dem neudeutschen Begriff des »Profilbilds«. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes aus dem französischen »profil«, was so viel heißt wie »Seitenansicht« oder »Schattenriss«, scheint dabei längst überwunden. Es geht nicht mehr darum, die persönliche Erscheinung schemenhaft zu umreißen, um die Zuordnung von Inhalten im Netz zu erleichtern, als vielmehr darum, ein eindeutiges, individuelles Statement zur eigenen Person, ja zur eigenen Existenz zu setzen - sich im digitalen Umfeld wortwörtlich zu profilieren. Dem eigenen, allzu austauschbar oberflächlichen Dasein eine charakteristische Anmutung, ein Profil, zu verleihen - das scheint der Anspruch an den modernen Social-Media-Nutzer zu sein. In der kreativen Umsetzung dieses Profilierungsprozesses scheinen sich allerdings sehr unterschiedliche Herangehensweisen entwickelt zu haben. Bei näherer Betrachtung sind vier verschiedene Typen von Profilbild-Nutzergruppen auszumachen.
Da wäre zum einen die Gruppe der semi-professionellen Selbstdarsteller, deren Mitglieder vorwiegend qualitativ hochwertige Porträt-Fotografien als Profilbild favorisieren. Meist wird das eigene Gesicht mit dezent leidend verzerrtem Blick zur Kamera inszeniert. Alternativ kann auch ein hippes Ganzkörper-Porträt in gestellt lässiger Gehpose und gewollt spontanem Snapshot-Charakter zum Einsatz kommen. In jedem Fall muss es ästhetisch einwandfrei sein. Inspiriert von der Modefotografie wird das eigene soziale Umfeld dafür oft als Hobby-Fotografen missbraucht. Die Selbstdarsteller vermitteln mit ihren Motiven Überlegenheit, Stärke und Selbstbewusstsein.
Die Romantiker hingegen setzen eher auf emotionale Tiefe und philosophisch anmutende Melancholie in ihren Bildern. Das klassische Motiv dieser Nutzergruppe ist der nachdenkliche Blick in die Ferne. Aufgenommen von der Seite oder gerne auch von hinten, zeigt sich der Nutzer gedankenversunken mit unscharfem Blick in die Weiten einer meist paradiesisch anmutenden Urlaubslandschaft – vorzugsweise bei Sonnenaufgang oder -untergang und mit ausreichend Gegenlicht um das märchenhafte Stimmungsbild durch goldgelbe Lichteffekte perfekt zu machen. Romantiker vermitteln mit ihren Bildern gerne die eigene Tiefgründigkeit und ihre erstrebenswert vielschichtige, philosophische Sicht auf die Welt.
Die dritte Nutzergruppe, die Gruppe der Mitteilungsbedürftigen, zeichnet sich vor allem durch häufig wechselnde Profilbilder aus. Der Fokus liegt dabei weniger auf der eigenen persönlichen Erscheinung, als vielmehr auf den unzähligen neuen Errungenschaften in den scheinbar überdurchschnittlich ereignisreichen Leben dieser Nutzer. Ob aktuelle Partybilder mit den neuen besten Freunden, ein Selfie mit der geliebten Hauskatze, der letzte Besuch im Sternerestaurant oder Actionaufnahmen von diversen Outdoor-Aktivitäten – alles wird aussagekräftig im Profilbild dargestellt. Die Mitteilungsbedürftigen legen den Fokus auf die Vermittlung eines vor Kreativität sprudelnden, erfüllten Lebens, das jedem Betrachter erstrebenswert erscheinen soll. Einen anerkennende Kommentar zu ihren Bildern nehmen sie meistens dankend entgegen.
Die Phantome fallen als vierte und letzte Nutzergruppe etwas aus der Reihe, da sie der vorgesehenen Verwendung des Profilbildes aktiv entgegenwirken. Sie greifen meist entweder auf völlig zusammenhangslose Motive zurück oder verzichten gar vollständig auf ein Profilbild. Ihnen geht es vorrangig darum, sich selbst eben gerade nicht zu zeigen. Dies kann aus verschiedenen Motivationen heraus geschehen. Sei es übermäßiger Anspruch an die eigene Erscheinung, generelle Unsicherheit, das Bedürfnis, sich gegen den Mainstream zu stellen, oder aber bewusster Protest gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Da man bekanntermaßen nicht nicht kommunizieren kann, vermitteln auch die Angehörigen dieser Nutzergruppe mit der Wahl oder Nicht-Wahl ihres Profilbildes mehr über ihre Person, als ihnen lieb oder bewusst sein mag.
Fakt ist: Profilbilder scheinen wohl einen höheren sozialen Stellenwert erreicht zu haben als uns gemeinhin bewusst sein mag. In gewisser Weise werden sie zum digitalen Spiegel der Seele. Die Wirkung der vielen subtilen Signale, die die kleinen Bildchen kommunizieren, ist dabei oft weitreichender, als man zunächst annehmen würde. Ob man will oder nicht – aktualisiert man sein Profilbild, wird unverzüglich das gesamte soziale Umfeld zu professionellen Kunstkritikern, Semiotikern und Psychoanalytikern. Jedes Detail des neuen Bildes wird kritisch beäugt, beurteilt und gegebenenfalls kommentiert: »Mit seiner Ex hatte der aber nie ’n Pärchen-Bild drin …«, »Auf deinem alten Profilbild hast du aber so hübsch gelächelt«, »Hat die ‘nen Freund oder is’ das ihr Bruder?«.
Es scheint also, als ob uns dieser Prozess der Profilbildwahl zu einer nie dagewesenen bewussten Definition der eigenen Person forciert. Nun können wir direkten Einfluss auf unseren ersten Eindruck nehmen und müssen uns dafür wohl oder übel mit unserer eigenen Identität oder zumindest der eigenen Erscheinung befassen. Zeige ich mich allein oder in Gesellschaft? Zeige ich mich fröhlich oder seriös? Wer bin ich, und wer will ich sein?
Der Versuch, unserem eigenen Dasein damit Profil zu verleihen, scheint allerdings oft im Gegenteil, in einer ungewollten Oberflächlichkeit zu resultieren. Dem ursprünglichen Wortstamm zufolge (profil von lat. filum, »Faden«) hängt unsere wahre Persönlichkeit dabei wohl am seidenen Faden.