Mythen des Alltags
Kleider-Stuhl
Die Ergänzung des Kleiderschranks
Jeans aus, Jogginghose an — Bluse aus, kuscheligen Pullover an. Und nun? Wohin mit der Jeans, die in der Mittagspause einen kleinen Kaffeeklecks abbekam. Eigentlich nicht mehr frisch, aber der Fleck ging ja raus. In die Wäsche muss sie noch nicht. Und die Bluse, die heute Morgen frisch gewaschen aus der Schublade des feinsäuberlich aufgeräumten Kleiderschranks kam? Riecht etwas nach Kantine, aber einmal anziehen und dann wieder in die Wäsche, wäre doch schade.
Ein leichtes Schmunzeln breitet sich aus, als ihr Blick auf ihren Stuhl fällt. Wie konnten all ihre Klamotten im Laufe der Woche bloß wieder auf ihrem Schreibtischstuhl landen? Und warum macht sie sich die Mühe, diesen großen Haufen an »halbfrischer« Kleidung täglich vom Stuhl aufs Bett umzuladen, sobald sie sich auf den Stuhl setzen möchte und andersherum?
Es ist Freitag, und schon wieder wandern die noch nicht definierten Klamotten der Woche vom sogenannten »Kleider-Stuhl« systematisch in den Wäschekorb oder in den Kleiderschrank zurück. Aber warum nicht gleich so? Warum werden sie wöchentlich erneut auf dem Schreibtischstuhl zwischengeparkt oder auf dem Balkon von Essensgerüchen ausgelüftet, um im Endeffekt dann doch wieder »nur« im Wäschekorb zu landen oder, als »nicht mehr ganz frisches« Kleidungsstück abgestempelt, nur noch zuhause getragen zu werden? Und woher kommt diese scheinbar gewollte »Unordnung«?
Jeder Mensch definiert Ordnung individuell.[1] Termine werden in Kalendern organisiert, Klamotten nach Farben im Kleiderschrank arrangiert, und der Wocheneinkauf wird mithilfe einer gut organisierten Einkaufsliste erledigt.[2] Auch Umberto Eco befasste sich in seinem Buch »Die unendliche Liste«[3] mit großen Werken der Weltliteratur, der Kunst und der Philosophie und setzte sich mit dem Begriff der Liste auseinander. Dabei wurde ihm während seiner Recherche bewusst, wie schwindelerregend groß die Ausbeute an Listen ist und dass diese niemals vollkommen erfasst werden können. Eine Vielzahl an Listen existiert aufgrund der Meinung von Menschen, dass mit Ordnung und Auflistung Verständnis einhergeht — was jedoch oft nicht der Fall ist.[4]
Diese Denkweise liegt an der Funktionsweise unseres Gehirns. Es ist darauf programmiert, in neuen Umgebungen eine mentale Landkarte anzulegen. Das passiert mit allem, sei es beim Lesen von Texten, beim Betrachten von Bildern oder eben beim Blick in den Kleiderschrank. Das Gehirn wird immer versuchen, Informationen in passenden Karten abzuspeichern, um sie später leichter abrufen zu können.[5] Auch im Tierreich kommt dieses Phänomen vor. Eichhörnchen sortieren Eicheln, Haselnüsse, Walnüsse und Mandeln und bewahren diese getrennt voneinander auf. Und so geschieht es auch bei uns, dass wir unsere »halbfrische« Kleidung in mentalen Landkarten organisieren – auf dem Kleiderstuhl.
Aber woher kommt nun das Phänomen des »Kleider-Stuhls«? Der Ursprung lässt sich auf den damaligen »Herrendiener«, auch »stummer Diener« genannt, zurückführen. Er wurde dafür konzipiert, Kleidung für den nächsten Tag bereits am Vorabend herzurichten. Der Platz war hauptsächlich auf Jackett, Hose, Krawatte, Schuhe und Hemd des Mannes begrenzt.[6] Warum der »stumme Diener« jedoch nicht bis heute überlebte, lässt sich zum einen auf die nur begrenzbare Menge an Kleidung zurückführen. Was bringt dieser Aufbewahrungs-Gegenstand, wenn er nur limitierten Platz für wenig Kleidungsstücke zulässt? Von der Kippgefahr bei Überladung ganz zu schweigen. Zum anderen scheint dieses erstmals für Männerkleidung konzipierte Möbelstück weitestgehend aus der Mode gekommen zu sein, denn hierfür kann ebenfalls ein normaler Kleiderständer mit Bügeln oder eben doch unser »Kleider-Stuhl« verwendet werden.
Wie kann nun aber dem wöchentlichen Problem des überfrachteten »Kleider-Stuhls« effektiv vorgebeugt werden? Ist eine schonende Wäsche nach jedem Tragen die Lösung? Oder sollte doch eine extra Kleiderstange für halbfrische Kleidung angeschafft werden? Eine Lösung bietet der sogenannte Dampfreiniger, der sich zum Auffrischen und Bügeln eignet und darüber hinaus Gerüche bekämpft. So wird das Parken auf dem Kleider-Stuhl umgangen, die Klamotten haben die Möglichkeit, die Woche unbeschwert im Schrank neben all den anderen frischen Kleidern zu verbringen. Wer das nicht will, muss versuchen, sein Gehirn vor der Bildung mentaler Landkarten zu bewahren, damit eine Separierung der Kleidung bewusst nicht mehr stattfindet. So entlastet er den Stuhl von den Zusatzfunktionen des Entlüftens und der Aufbewahrung zurück zur Funktion »einfach mal nur sitzen« …
- [1] Anderson, John R.: Kognitive Psychologie. Heidelberg 1996.
- [2] Goldstone, Robert L.; Kersten, Alan: Concepts and categorization. In: Weiner, Irving B. (Hg.): Handbook of psychology. Volume IV: Experimental Psychology. New Jersey: Wiley 2003. S. 597—621.
- [3] Eco, Umberto: Die unendliche Liste. München: Dtv, 2011.
- [4] Teutsch, Katharina: Die Welt ist eine Liste. URL: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2009-12/umberto-eco-liste?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F, Stand 3.12.2021.
- [5] Kuchinke, Lars; Dickmann, Frank; Edler, Dennis; Bordewieck, Martin; Bestgen, Anne-Kathrin: The processing and integration of map elemets during a recognition memory task is mirrored in eye-movement patterns. In: Journal of environmental psychology 2016, Volume 47, S. 213—222.
- [6] Zajonz, Michael: Stumme Diener. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/stumme-diener/809366.html (Stand 3.12.2021).