Buchbesprechung
»Die Erde ist ein Trümmerhaufen vergangener Zukunft«
Judith Schalansky über den Reiz der Leerstelle
»Die Untrennbarkeit von Träger und Inhalt (…) ist für mich der Grund, warum ich Bücher nicht nur schreiben, sondern auch gestalten will« (S. 26), sagt Judith Schalansky und bringt damit die Besonderheit ihrer Bücher als Gesamtkonzept auf den Punkt. Die gelernte Kommunikationsdesignerin und Autorin aus Greifswald schafft durch ihren bewussten Einsatz von Gestaltungsdetails eine noch intensivere Erfahrbarkeit des Inhaltes und zeigt damit auf, welche Kraft in der Verknüpfung von geschriebenem Wort und transportiertem Inhalt möglich ist. In ihrem zuletzt erschienen Buch »Verzeichnis einiger Verluste« begibt sich die Autorin auf die Suche nach Geschichten, die das Aussterben einer Art, den Untergang einer Religion oder den Reiz der Leerstelle behandeln. Dabei nimmt Schalansky historische Ereignisse oft als Grundgerüst und verpackt sie für den Leser in eine detaillierte Beschreibung der Zeit, der Umstände und der Menschen.
In zwölf Kurzgeschichten führt sie einen Exkurs in verschiedene Zeitalter und Länder und wechselt dabei Protagonisten und Erzählstil. Die inhaltliche Gemeinsamkeit der Geschichten liegt stets im Aufzeigen von »Strategien, Vergangenes festzuhalten und dem Vergessen Einhalt zu gebieten« (S. 14). Dabei fungieren die Kapitel selbst als Medium, Geschehenes einzufangen und bereits vergessene Ereignisse wieder aufblühen zu lassen und in Erinnerung zu behalten. Denn bei den geschichtlichen Hintergründen, die separat am Anfang eines jeden Kapitels aufgeführt sind, handelt es sich um tatsächlich ereignete, erstaunliche Begebenheiten. Schalansky wählt also das Schreiben als Methode, ist sich jedoch bewusst, dass nichts »im Schreiben zurückgeholt werden, aber alles erfahrbar werden« (S. 26) kann. Schon der Einstieg in das Buch verrät die abstrakte, reflektierende Herangehensweise der Autorin und zeigt ihre Faszination für das Thema. Sie listet Ereignisse auf, bei denen etwas verloren, verschwunden, beendet oder gestorben ist, während sie an dem Buch arbeitete.
Im Vorwort geht Sie näher auf den Umgang des Menschen mit der Vergänglichkeit ein. Kulturen, Religionen und Wissenschaft hätten sich schon immer mit der Frage beschäftigt, was passiert, wenn Menschen sterben. Eine interessante Betrachtungsweise ist, dass es für den einen tröstlicher sein kann, zu wissen, dass alles ein Ende haben wird, während sich ein anderer Ewigkeit erhofft (S. 13).
Von außen lockt »Verzeichnis einiger Verluste« durch das elegante, schlanke Format und die silberne Schrift auf dem düsteren Cover. Die Grafik erinnert an das Bitmap einer Wolke, an Bruchstücke, an Zersetzung, ohne dabei abstoßend zu wirken. Das matte Einbandpapier des Buches fühlt sich angenehm an und kommt ganz ohne zusätzlichen Umschlag aus. Betrachtet man den Schnitt von außen, verrät dieser bereits eine weitere Besonderheit der Buchgestaltung. Schwarze Seiten trennen die Kurzgeschichten in gleich breite Abschnitte. Schlägt man das Buch auf und lässt die Seiten durch die Finger blättern, erkennt man erst auf den zweiten Blick, dass es sich um Farbtafeln handelt. Grafiken, welche die jeweilige Kurzgeschichte einleiten, wurden mit schwarzer Tinte auf das schwarze Papier gedruckt. Die Betrachtung der schwarzen Seiten erinnert an die Betrachtung alter Bücher, bei denen Papier und Schrift durch die Zersetzung mit der Zeit verschmelzen. Nur dem Leser, der diese Seiten bei richtiger Beleuchtung betrachtet, offenbart das Buch Zusatzinformationen.
Ähnlich geht es dem Leser womöglich mit dem Inhalt des Buches. Anfangs erscheinen die Zusammenhänge der Geschichten nicht ganz schlüssig und auch der Klappentext klingt zwar anziehend abstrakt, verrät jedoch nichts über die Form und den Aufbau des Buches. Je mehr Kurzgeschichten man liest, umso verständlicher erscheint die Methode der Autorin. Durch das Sammeln von Geschichten versucht Sie das Thema der Vergänglichkeit für sich und für den Leser begreifbarer zu machen. Dabei wirkt das Aufschreiben der Geschichten wie eine Verarbeitungsmethode, ebenso wie eine Enzyklopädie. Schalanskys persönlicher Bezug wird immer wieder sichtbar, wie beispielsweise das Kapitel »Das Schloss von Behr« zeigt. Aus den Augen ihres kindlichen Ichs betrachtet sie den Tod als eines von vielen Rätseln, dessen Frage sie nicht richtig verstanden hat. Die eigene Nahtod-Erfahrung aus naiver Neugier erklärt sie sich so: »Den Tod kannte ich noch nicht. Dass Menschen sterben, dass ich selbst eines Tages sterben würde, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft.« (S.139)
In den meisten Kurzgeschichten erinnert der Schreibstil der Kommunikationsdesignerin an Fotografien. Hinter jeder Sequenz verbergen sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche Details. Schalansky schafft es, durch ihre Sprache Klänge, Farben, Gerüche oder Materialien zu Leben zu erwecken und den Leser so trotz extrem unterschiedlicher Szenarien abzuholen.
»Verzeichnis einiger Verluste« ist ein Buch, das durch seine unkonventionelle Art sowohl in der Gestaltung als auch inhaltlich im Gedächtnis bleibt. Vielleicht ist es gerade die Perspektive einer Gestalterin, der die Wortwahl mit Liebe für Details formt, und die einer Schriftstellerin, die sich für eine Gleichberechtigung von Form und Inhalt ausspricht, die das Buch so attraktiv machen. Sowohl optisch als auch literarisch ist »Verzeichnis einiger Verluste« eine Empfehlung für jeden, der sich für Buchgestaltung und originelle Herangehensweisen an ein Thema interessiert.