Mythen des Alltags

Kalender

Von den Sternen in die Hand

Von Moritz Diepgen


Die Welt stand nie still. Nicht heu­te und nicht für die Ägyp­ter und Baby­lo­ni­er vor über 4000 Jah­ren. Min­des­tens so lan­ge hat die Mensch­heit ver­sucht, Halt im Fluss der Zeit zu finden.

Wis­sen über den Jah­res­zy­klus ist für jede Zivi­li­sa­ti­on unab­ding­bar. Sie gibt seit Jahr­tau­sen­den Auf­schluss über Pflanz- und Ern­te­zei­ten, die Migra­ti­on von Tie­ren oder den anste­hen­den Win­ter. Schon seit der Anti­ke wird der Tag-Nacht-Zyklus in 24 Stun­den geteilt. Grund ist hier die Zähl­wei­se in der sume­ri­schen Keil­schrift, die im Gegen­satz zum heu­te gebräuch­li­chen Zeh­ner­sys­tem ein Sech­zi­ger­sys­tem ver­wen­de­te, das von den Astro­no­men Baby­lons über­nom­men wur­de. Der sume­ri­schen Keil­schrift ist auch zu ver­dan­ken, dass wir eine vol­le Umrun­dung in 360 Grad mes­sen. Aus Baby­lon wur­de die­ser Stan­dard in die gan­ze Welt getra­gen. Die zwölf Ein­hei­ten wur­den damals auf einer ein­fa­chen Son­nen­uhr mar­kiert, sodass sich das Län­gen­ver­hält­nis von Tag- und Nacht­stun­den abhän­gig von der jewei­li­gen Jah­res­zeit verschob.

Die vom Mond­zy­klus abge­lei­te­ten Mona­te hat­ten sich eben­falls, in den meis­ten Kul­tu­ren, schon früh eta­bliert. Die exak­te Dau­er eines Monats vari­ier­te, hielt sich aber an den unge­fäh­ren Richt­wert des Mond­zy­klus von 29,5 Tagen.

In den meis­ten Kul­tu­ren begann die Grup­pie­rung von Tagen, anhand von unter­schied­li­chen Gesichts­punk­ten, in eine kür­ze­re Ein­heit. Die­se ähnel­te am ehes­ten der Woche. Oft waren die­se von Markt­zy­klen bestimmt oder reli­gi­ös ver­an­kert. Die Ägyp­ter zum Bei­spiel pfleg­ten eine 10-Tage-Woche und das anti­ke Rom eine 8-Tage-Woche. Als die frü­he Chris­ten­heit dann die 7-Tage-Woche des Juden­tums über­nahm, wur­de die­se lang­sam aber sicher zum Welt­stan­dard.[1]

Den Mond­zy­klen gegen­über steht jedoch die Ver­tei­lung der Jah­res­zei­ten. Die­se sind schließ­lich kein Mond­phä­no­men, son­dern hän­gen von der Bahn der Erde um die Son­ne ab. Wäh­rend anti­ke Kul­tu­ren, abhän­gig von ihrer Lage, ver­schie­de­ne Jah­res­zei­ten zähl­ten, erge­ben alle akku­ra­ten Beob­ach­tun­gen der Son­ne ein Jahr mit etwa 365 Tagen.[2] Auch die­se Rela­ti­on war bereits in der Anti­ke bekannt. Schon die Ägyp­ter sahen alle vier Jah­re einen Schalt­tag vor.[3]

Die ers­te Ver­wen­dung der Bezeich­nung »Kalen­der«, für die Samm­lung von Zeit­ein­hei­ten ver­dan­ken wir den Geld­lei­hern des römi­schen Rei­ches. Das »Calen­da­ri­um« war ein Schuld­buch, in dem die soge­nann­ten Kalen­dae, die ers­ten Tage der Mona­te des römi­schen Kalen­ders, ver­zeich­net waren. An die­sen Tagen wur­den Anlei­hen ver­ge­ben und Schul­den ein­ge­for­dert.[4] Die­ser Kalen­der hat­te – im Gegen­satz zu dem heu­te ver­brei­te­ten gre­go­ria­ni­schen Kalen­der – erst zehn, spä­ter sogar drei­zehn Mona­te, inklu­si­ve eines Schalt­mo­nats. Und er sah, wie bereits beschrie­ben, eine 8-Tage-Woche vor. Die Mona­te Sep­tem­ber bis Dezem­ber sind nach den römi­schen Zah­len Sie­ben bis Zehn benannt. Juli und August – zunächst Quin­ti­lis und Sex­ti­lis, also Fünf und Sechs – wur­den zu Ehren des ers­ten römi­schen Kai­sers Augus­tus und sei­nes Zieh­va­ters Iuli­us Cae­sar umbe­nannt. Pas­sen­der­wei­se trifft der Geburts­na­me des Augus­tus – Gai­us Octa­vi­us, der Ach­te – hier bei der Zähl­wei­se von Ianus, dem Janu­ar, auf­wärts genau den ach­ten Monat.[5]

Mit der Ein­füh­rung mecha­ni­scher Uhren im 13. Jahr­hun­dert, wur­de das Ein­hal­ten einer kon­stan­ten Län­ge für die Stun­de mach­bar.[6] Spä­ter erfolg­te der Bau gro­ßer Kalen­der­uh­ren, die in und an öffent­li­chen Gebäu­den ange­bracht wur­den. Im 16. Jahr­hun­dert ver­ord­ne­te die Kir­che unter Papst Gre­gor XIII eine Kalen­der­form, die dem Kalen­der zum ers­ten Mal die bis heu­te über­dau­ern­de Form gab.[7]

Der Kalen­der der, mit dem Wis­sen über die Jah­res­zei­ten, über­le­bens­wich­tig war, bleibt bis heu­te zen­tral für die Zivi­li­sa­ti­on. Geburts­ta­ge, Fei­er­ta­ge, Schul­fe­ri­en, Trau­er­ta­ge und Beer­di­gun­gen. Alles hat in einem Kalen­der sei­nen Platz. Und das schon seit Jahrtausenden.

Mit dem Berufs­all­tag gibt es eine Viel­zahl von Ter­mi­nen, die der Vor­mer­kung in einem Kalen­der bedür­fen. Noch vor weni­gen Jah­ren war der gebun­de­ne Taschen­ka­len­der nicht weg­zu­den­ken. Dün­ne Sei­ten, gebun­den in einem Buch, das jedes Jahr erneu­ert wird und nicht nur als Gedächt­nis­stüt­ze und Pla­nungs­hil­fe dient, son­dern auch als stil­les Doku­ment ver­gan­ge­ner Erleb­nis­se. Bran­chen- und milieu­ab­hän­gig haben sich rund um den Jah­res-, Wochen- und Tages­pla­ner eige­ne Sub­kul­tu­ren gebil­det. Kal­li­gra­fie, Sti­cker und Pas­tell­far­ben in selbst­ge­schrie­be­nen Spal­ten, Kugel­schrei­ber auf gelb­li­chem Papier oder Edding auf einem Wand­ka­len­der. So ist der Füll­grad des eige­nen Kalen­ders ein Sta­tus­sym­bol und der Ein­fluss über die Ter­mi­ne ein Macht­fak­tor, wäh­rend das ordent­li­che Füh­ren des­sel­ben eige­ner, ein­ge­spiel­ter Zere­mo­nien bedarf und einen gan­zen Berufs­zweig gebo­ren hat. Der Wer­be­ka­len­der bleibt eine belieb­te Maß­nah­me in der Mar­ken­bil­dung. Bis heu­te hän­gen in Gara­gen welt­weit Kalen­der, deren Papier längst ver­gilbt, wäh­rend ande­re sorg­fäl­tig in einer Kis­te im Kel­ler auf­be­wahrt wer­den. Nach wie vor sind Foto­ka­lender belieb­te Weih­nachts- und Geburts­tags­ge­schen­ke – ger­ne auch mit eige­nen Urlaubs­fo­tos. So wer­den aus die­sen Kalen­dern über die Zeit kost­ba­re Erin­ne­run­gen, durch die Bil­der, die schö­nen Anläs­se und ihre Posi­ti­on als Kunst­wer­ke an den Wän­den der Lebensräume.

Jah­res­zei­ten, Mona­te und das Uhren-Lesen gehö­ren zu den ers­ten Din­gen, die in der for­ma­len Bil­dung erwor­ben wer­den. Sie sind fun­da­men­ta­le Bau­stei­ne für das Ver­ständ­nis von Zeit, der Geschich­te und der Welt, die den Men­schen umgibt. Von Stein­krei­sen über Wand­ma­le­rei­en, Schul­den­bü­cher und Uhr­wer­ke bis zu Taschen­ka­len­dern und Soft­ware-Lösun­gen von heu­te hat der Umgang mit dem Kalen­der sich ste­tig mit der Tech­nik sei­ner Zeit wei­ter­ent­wi­ckelt. Er ist für den All­tag so grund­le­gend wie lesen, schrei­ben und rech­nen. Und im Gegen­satz zu die­sen Kul­tur­tech­ni­ken tei­len sich den gre­go­ria­ni­schen Kalen­der, zumin­dest in säku­la­ren Din­gen, fast alle Völ­ker der Welt.