Krea­ti­vi­tät meint nach allen die­sen Bestim­mun­gen nicht eine Cha­rak­ter­ei­gen­schaft eines Ora­tors, son­dern eine Zuschrei­bung einer Cha­rak­ter­ei­gen­schaft durch ein Publi­kum und ver­rät daher stets mehr über das Publi­kum als über den Ora­tor. Eben des­halb ist das Kon­zept der Krea­ti­vi­tät ver­wandt mit ande­ren Ethos­kon­zep­ten wie dem vir-bonus-Ide­al, Red­lich­keit, Tugend­haf­tig­keit, Auf­rich­tig­keit, Weis­heit und Ähn­li­ches. Die rhe­to­ri­sche Kraft all die­ser Kon­zep­te resul­tiert aus einer erfolg­rei­chen Ver­mitt­lungs­pra­xis und einer Ein­fluss­nah­me auf die Zuschrei­bungs­pra­xis des jewei­li­gen Publi­kums. Krea­ti­vi­täts­tech­ni­ken sind also Tech­ni­ken, um Ein­fluss auf die Zuschrei­bungs­pra­xis des Publi­kums zu neh­men, auf dass die­ses eher geneigt sei, einem Ora­tor ein krea­ti­ves Poten­ti­al zuzu­schrei­ben.[2] Krea­ti­vi­täts­tech­ni­ken sind Tech­ni­ken der Selbst­dar­stel­lung und Insze­nie­rung. Sol­che Tech­ni­ken fin­den sich für alle Bestand­tei­le des Ethos. Ein Bei­spiel: Bevor ich mei­nen Vor­trag eröff­ne­te, wur­de ich freund­li­cher­wei­se ange­kün­digt. »Er hat dies und das getan, dort und dort gear­bei­tet und über die­ses und jenes geforscht, gespro­chen und geschrie­ben.« Neben einem infor­ma­ti­ven Wert die­ser Pro­ze­dur, ver­dan­ke ich die­ser Ankün­di­gung vor allem, dass eine Sache bereits klar sein soll­te, bevor ich auch nur ein Wort gesagt habe: Ich bin kom­pe­tent. Wenn Aris­to­te­les von Weis­heit, Tugend und gutem Wil­len als den drei Grö­ßen des Ethos spricht, so wird mir durch die Ethos­tech­nik der Ankün­di­gung bereits bis zu einem gewis­sen Grad Weis­heit attes­tiert. In glei­cher­wei­se kann der Begriff Krea­ti­vi­täts­tech­nik ver­stan­den wer­den, wenn mit Krea­ti­vi­tät eine Zuschrei­bungs­pra­xis gemeint ist. Die­ser Krea­ti­vi­täts­be­griff ist logisch voll­kom­men unab­hän­gig von einem womög­lich krea­ti­ven Poten­ti­al eines Ora­tors. Zuge­schrie­ben kann und wird alles mög­li­che, je nach Erwar­tungs­rah­men und sozia­ler Struk­tur der Rezi­pi­en­ten­grup­pe – eben des­halb sagt die­se Zuschrei­bung auch mehr über das Publi­kum aus als über den Ora­tor. Nichts­des­to­trotz soll­te es mög­lich sein, Gemein­plät­ze die­ser Zuschrei­bungs­pra­xis für bestimm­te Situa­tio­nen und Per­so­nen­grup­pen aus­zu­ma­chen. Dabei kann es durch­aus einen Topos dar­stel­len, ein Geheim­nis aus sich selbst und den eige­nen Pro­duk­ti­ons­wei­sen zu machen. Ande­re Tech­ni­ken könn­ten fol­gen­de sein: Einen exal­tier­ten Künst­ler­ty­pus bedie­nen; den »krea­ti­ven Fun­ken« oder Enthu­si­as­mus und Ein­ge­bung eher beto­nen als Pla­nung, Kon­trol­le, Fleiß und den Gebrauch von bekann­ten Tech­ni­ken. Ein genau­es Expli­zie­ren der Neu­heit eines Gedan­kens durch den Rekurs und den hohen Grad an Anschluss­fä­hig­keit an bestehen­de Gedan­ken ist zwar durch­aus per­sua­siv (Akzep­tanz- und Rele­vanz­ein­schät­zun­gen begüns­ti­gend), kann aber der Zuschrei­bung eben der Neu­heit und damit der Krea­ti­vi­tät im Wege ste­hen. Beschei­den­heit mag auch ein Hin­der­nis dar­stel­len. Wie Lup­pold tref­fend fest­stellt: »der irra­tio­na­le Aspekt der Krea­ti­vi­tät [ist] mög­li­cher­wei­se des­halb so lan­ge Zeit über­be­tont wur­de, weil das Argu­ment vom gott­ge­ge­be­nen Talent und vom Musen­kuss bei der gesell­schaft­li­chen Zuschrei­bung von Krea­ti­vi­tät weit­aus grö­ße­re per­sua­si­ve Kraft ent­fal­ten kann als das Argu­ment von guter Pla­nung, sau­be­rem Hand­werk und sehr viel har­ter Arbeit.«[3] Die rhe­to­ri­sche Wir­kungs­di­men­si­on, die die Zuschrei­bun­gen von Krea­ti­vi­tät begüns­tigt, lässt sich in Anschluss an Kna­pe als eine Art Hä-Aha-Effekt cha­rak­te­ri­sie­ren. Kna­pe schreibt, dass in »direk­ten Face-to-face-Inter­ak­tio­nen [etwas] auch dann als krea­tiv emp­fun­den wer­den [kann], wenn es die Adres­sa­ten­grup­pe als situa­tiv über­ra­schend und ange­bracht erlebt«[4]. Krea­ti­vi­tät wird also eher zuge­schrie­ben, wenn das Publi­kum in einen Pro­zess ein­ge­bun­den wird, bei dem es sich zuerst »situa­tiv über­rascht« zeigt, also weder ver­steht, noch akzep­tiert und dann das Prä­sen­tier­te doch noch ver­ste­hend als ange­mes­sen emp­fin­det. Schafft es das Publi­kum nicht in ange­mes­se­ner Zeit vom Hä zum Aha zu gelan­gen, so wird nicht Krea­ti­vi­tät, son­dern Unsinn zugeschrieben.

Krea­ti­vi­tät als Erkenntnisinstrument

Krea­ti­vi­tät durch Zuschrei­bungs­ei­gen­schaf­ten zu bestim­men, dient wohl vor allem dem Zweck, Phä­no­me­ne, die als Unsinn, Non­sen­se oder ander­wei­tig als Unfug ein­ge­schätzt wer­den, als nicht krea­tiv aus­klam­mern zu kön­nen. Aller­dings führt die­se Aus­klam­me­rungs­tak­tik zu dem gera­de beschrie­be­nen Fall, dass Krea­ti­vi­tät schlicht­weg nicht mehr als eine Eigen­schaft eines Ora­tors ver­stan­den wer­den kann.[5] Ein ande­res Ver­ständ­nis von Krea­ti­vi­tät ver­steht die­se als ein Erkennt­nis­in­stru­ment und ins­be­son­de­re als ein Werk­zeug der Pro­blem­lö­sung. Als sol­ches meint Krea­ti­vi­tät die Fähig­keit, etwas als etwas ande­res zu sehen und zu ver­ste­hen. Krea­ti­vi­tät wird abver­langt um, wie Lup­pold betont, durch Varia­ti­on, Rekom­bi­na­ti­on, Trans­la­ti­on oder Rekon­tex­tua­li­sie­rung an der Pro­blem-, Metho­den- oder Lösungs­krea­ti­on zu arbeiten.

Krea­ti­vi­tät meint dem­nach die Eigen­schaft, die klas­si­scher Wei­se als Witz bezeich­net wird und die hier als seman­ti­sche Iden­ti­fi­ka­ti­on beschrie­ben wer­den soll. In die­ser Wei­se stellt Krea­ti­vi­tät das Ver­mö­gen dar, devi­an­te seman­ti­sche Iden­ti­fi­ka­tio­nen vor­neh­men zu kön­nen und dabei womög­lich pro­vo­zier­te sozia­le Kon­flik­te aus­zu­hal­ten. In die­sem Sin­ne for­mu­liert auch Kna­pe den Impe­ra­tiv der Krea­ti­vi­tät indem er sagt: »Habe den Mut, das Uner­hör­te zu den­ken!«[6] Kna­pes Erwei­te­rung die­ses Impe­ra­tivs zu einem rhe­to­ri­schen Krea­ti­vi­täts­im­pe­ra­tiv – »Habe den Mut, das Uner­hör­te zu den­ken und sor­ge in der Kom­mu­ni­ka­ti­on für Über­ra­schung!« – ver­flech­tet die hier vor­ge­stell­ten bei­den Typen von Krea­ti­vi­tät. Das geplan­te Über­ra­schungs­mo­ment steht weni­ger im Dienst einer Krea­ti­vi­tät als Erkennt­nis­in­stru­ment, als der geziel­ten Steue­rung einer mög­li­chen Zuschrei­bung von jemand oder etwas als kreativ.

Aber zurück zum Witz: Als Witz wird die Fähig­keit bezeich­net, das Glei­che im Unglei­chen zu erken­nen, also Ähn­lich­kei­ten von Phä­no­me­nen zu sehen. Die­ses Erken­nen von Ähn­lich­kei­ten wird in den kogni­ti­ven Lin­gu­is­tik aber auch bereits in der New Rhe­to­ric nicht als ein blo­ßes Erken­nen von Gege­be­nen ver­stan­den, also der unab­hän­gig vom Erken­nen­den exis­tie­ren­den Ähn­lich­keit zwi­schen zwei Phä­no­me­nen, son­dern als kon­struk­ti­ver Schritt einer Ähn­lich­keits­er­zeu­gung. Als sol­che lässt sich der Witz als seman­ti­sche Iden­ti­fi­ka­ti­on beschrei­ben, bei wel­cher etwas als etwas ande­res beschrie­ben, gese­hen und gehand­habt wird und damit eine erwei­ter­te oder ver­än­der­te, mit­hin neue Bedeu­tung bekommt. Den damit ein­her­ge­hen­den ver­än­der­ten Ter­mi­no­lo­gie­ge­brauch bezeich­net Ken­neth Bur­ke als einen ter­mi­ni­stic screen, der zu einer ver­än­der­ten Wahr­neh­mung von Situa­tio­nen führt und somit auch Ein­fluss auf die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten inner­halb der so neu­be­stimm­ten Situa­tio­nen aus­übt. In die­ser Wei­se gehört Krea­ti­vi­tät als die Mög­lich­keit durch seman­ti­sche Iden­ti­fi­ka­tio­nen Ein­fluss auf Situa­ti­ons­be­stim­mun­gen und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten aus­zu­üben kla­rer Wei­se in das Inter­es­sen­ge­biet rhe­to­ri­scher Forschung.

Inso­fern das devi­an­te Moment seman­ti­scher Iden­ti­fi­ka­tio­nen durch die Erzeu­gung einer Ähn­lich­keit zwi­schen als unver­ein­bar oder wenigs­tens nicht sofort klar ver­ein­ba­rer Phä­no­me­ne ange­se­hen wer­den kann, meint Krea­ti­vi­tät in sei­ner Erkennt­nis­funk­ti­on das Fin­den bezie­hungs­wei­se Erfin­den eines ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis, das die Ähn­lich­keits­kon­struk­ti­on erlaubt. Vor die­sem Hin­ter­grund meint eine Krea­ti­vi­täts­tech­nik eine Metho­de oder Anlei­tung zum Auf­fin­den mög­li­cher Ver­gleichs­mo­men­te. Die­sem Ziel haben sich bei­spiels­wei­se die Design­hand­bü­cher »Krib­beln im Kopf« von Pri­cken und »Uni­ver­sal Pri­ci­ples of Design« von Lid­well (und ande­ren) auf je eige­ne Art verschrieben.