Mythen des Alltags
Navigationssysteme
»Wenn möglich, bitte wenden und das Ziel überdenken!«
Von Karoline Kirner
Ein paar Schritte in eine Richtung, am Absatz kehrt und wieder zurück. Er bewegt sich nicht, der blaue Punkt. Keine Verbindung zum Internet. Keine Orientierung. Ohne mobile Daten bleibt auch der Mensch immobil. Dann endlich ein Signal. Und er bewegt sich doch! Ein Klick auf den Start-Button und es geht los. »Auf der Stumpergasse Richtung Nordosten, dann rechts abbiegen in die Schmalzhofgasse«, meldet sich der Google Assistent zu Wort — oder folgt man lieber den Anweisungen der sympathischen Google Assistentin? Den Blick auf den Screen geheftet geht es sicheren Schrittes die gepunktete Linie entlang tief hinein in Häuserschluchten. Gleich einer Figur in einem Videospiel, ferngesteuert von Satelliten, die auf fixen Bahnen um die Erde kreisen. Fußgänger passieren ohne zu touchieren. Wie ein Eisbrecher bahnt sich der GPS-Navigierte den Weg durch die samstäglichen Shopping-Massen. »200 Meter dem Straßenverlauf folgen, dann links abbiegen, nach 100 Metern halb rechts abbiegen« — Ob das der kürzeste Weg ist? Unbeirrt wird der Irrgang fortgesetzt.
Die physische Präsenz des Fußgängers ist nicht mehr notwendig, meist kann ein Ort virtuell via Google Earth abgelaufen werden. Eine Fotografin in London erkundet Orte über Google Street View und bringt Screenshots als Souvenirs von ihren Spaziergängen in der virtuellen Welt mit.[1] Neue technische Gadgets wie Google Glass oder Head-up-Displays lösen die Grenzen zwischen Realität und Kartographie auf.[2] Im Bond-Film »Goldfinger« ist das Armaturenbrett des Aston Martin bereits mit einem Navigationssystem ausgestattet. Was im Jahr 1964 noch als futuristischer Filmgag galt, dem Geheimagenten 007 vorbehalten, ist heute längst Standard.
Der GPS-gepeilte (oder GPS-gepeinigte?) Mensch von heute steht dem »verpeilten« Flaneur des 19. Jahrhunderts gegenüber. Letzterer kennt keine Uhr und keine Stadtpläne. Diese wären bei »der Lektüre der Straße«, wie Franz Hessel das Flanieren beschreibt, nur hinderlich.[3] Orientierungslosigkeit ist ein wesentliches Merkmal des Flaneurs. Er will verloren gehen, um Unbekanntes zu entdecken und neues Terrain zu erkunden. Die moderne Stadt, in der die Verkehrsökonomie Vorrang hat, erscheint als ein lebensfeindlicher Raum für den Flaneur, der sich seine Umwelt im natürlich entschleunigten Gang auf zwei Beinen erschließt. Er wird vom Fortschritt in der Mobilität überholt und wegrationalisiert. Eine Stadt muss funktionieren, es bleibt kein Raum zum Flanieren. Der moderne, effiziente Mensch fühlt sich in ihr hingegen äußerst wohl. »Möglichst schnell ans Ziel, in möglichst kurzer Zeit«, lautet sein Credo. Alles muss vorhersehbar und berechenbar sein: die Wegzeit und Strecke zum Zielort, die Verkehrslage und Wartezeiten. Wer »per pedes« unterwegs ist, hat am Smartphone den Schrittzähler mitlaufen und lässt sich parallel noch den Kalorienverbrauch berechnen. Der neue, optimierte Fußgänger vermeidet den Umweg, aus Angst am Ende auf den Holzweg zu geraten. Er verlässt sich stattdessen auf die Technik, die, weil von Menschenhirn erdacht und maschinell gemacht, leider auch nicht unfehlbar ist. Das Navi schaltet sich ein, der Verstand aus. Besonders pessimistische Stimmen meinen sogar, dass unser Orientierungssinn verloren ginge. Doch es gibt Rettung: Einer Londoner Studie zufolge ist die Orientierungsfähigkeit trainierbar. So sind die entsprechenden Hirnbereiche von Vögeln im Winter größer, weil sie in den kalten Monaten zu ihren Futtervorräten zurückfinden müssen.[4] Und Londoner Taxifahrer sollen mit einem größeren Hippocampus ausgestattet sein, da das komplexe Straßennetz die Orientierung schwieriger macht, als beispielsweise im schachbrettartigen Manhattan. Wer also blind dem Diktat seines Navis folgt, der verfällt »in kognitive Trägheit«.[5]
Wenn das smarte Phone irrt und der Mensch dem GPS folgt, kann es schon mal passieren, dass er vom rechten Weg falsch abbiegt und im Nirgendwo landet. Lost in Navigation? In der Zeitung folgt dann die Schlagzeile: »Plagne statt La Plagne: Navi-Trottel fährt 1.200 km Umweg«. [6] Halb so schlimm, denn schließlich ist »der Weg das Ziel«, wusste schon Konfuzius. Irren ist menschlich, herumirren folglich auch. Und Umwege können manchmal zielführender sein als der direkte Weg. Daher: Wenn möglich, bitte wenden und die Routenführung beenden! Das Ziel liegt vor Ihnen.
- [1] http://www.theagoraphobictraveller.com, Stand 23.6.2021.
- [2] http://www.zeit.de/digital/internet/2014-05/kathrin-passig-gps-navigationssystem, Stand 23.6.2021.
- [3] Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin. Berlin 2011
- [4] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2015/02/orientierung-verlust-navigationsgeraete, Stand: 23.6.2021
- [5] ebda.
- [6] https://www.spiegel.de/reise/europa/navi-irrtum-busfahrer-faehrt-1200-kilometer-umweg, Stand: 11.2.2020