Ob wir in die­sem Punkt zu einer abschlie­ßen­den Klä­rung kom­men kön­nen, sei dahin­ge­stellt. Für mein The­ma wich­tig bleibt, dass auch der rhe­to­ri­sche Argu­men­ta­ti­ons­theo­re­ti­ker Aris­to­te­les die Gefühls­grün­de nicht ein­fach wie sein Leh­rer Pla­ton als böse, als Gebre­chen und Makel des Men­schen gei­ßelt, son­dern in sein Bil­dungs­pro­gramm auf­nimmt. Was ihm umso bes­ser gelingt, als er die Gefüh­le eben nicht als bare Irra­tio ver­teu­felt. Ver­steht er doch unter »Pathos« eine ziel­ge­rich­te­te Gemüts­be­we­gung, die von Lust- oder Unlust­emp­fin­dun­gen beglei­tet wird, aber, anders als die bloß tie­ri­sche Begier­de, von ratio­na­ler Über­le­gung nicht voll­kom­men getrennt ist. Der Mensch näm­lich reagiert mit sei­nen emo­tio­na­len Gemüts­be­we­gun­gen nicht bloß zwang­haft infol­ge sei­ner Sin­nes­ein­drü­cke, son­dern eben­so auf­grund einer, von sei­nen Bestre­bun­gen akti­vier­ten vor­gän­gig ein­ge­nom­me­nen Stel­lung zu dem vor­lie­gen­den Sach­ver­halt – einer Kon­di­tio­nie­rung also, die durch mehr­fa­che Erfah­rung und Über­le­gung zustan­de gekom­men ist, also alles ande­re als irra­tio­nal, wenn auch fehl­bar. Und es ist wahr: Auf den Anblick eines Feri­en­pla­kats mit Son­ne, Strand und Meer oder einem ent­spre­chen­den Gebirgs­pan­ora­ma reagie­ren wir mit Sehn­sucht, Wohl­ge­fühl, Hei­ter­keit, fro­her Erwar­tung – je nach­dem. Das heißt, wir ant­wor­ten gefühls­haft und spon­tan, aber auf­grund der längst habi­tua­li­sier­ten Annah­me, dass die­ses Sujet für uns mit Lust und Ent­span­nung ver­bun­den ist. Die Gewöh­nung bringt in den wil­den Affekt nicht bloß ein refle­xi­ves Ele­ment hin­ein, sie ver­än­dert ihn auch. In die­ser neu­en Gestalt erst wird er rhe­to­risch über­zeu­gungs­kräf­tig. Mit den Wor­ten der »Niko­ma­chi­schen Ethik«: Ganz all­ge­mein scheint die Lei­den­schaft nicht dem Wort zu wei­chen, son­dern nur der Gewalt. Es muss also der Cha­rak­ter schon in gewis­ser Wei­se zuvor der Tugend ver­wandt sein, das Schö­ne lie­ben und das Schimpf­li­che verabscheuen.«

Die gegen­sätz­li­che Zuord­nung der Affek­te in die­sem Bei­spiel ist nicht zufäl­lig, son­dern macht auf die Band­brei­te von Gefühls­dis­po­si­tio­nen auf­merk­sam, deren Extre­me sie jeweils bezeich­nen. Unse­re meta­pho­ri­sche Rede­wei­se, dass etwa Lie­be in Hass »umschlägt« oder Furcht in den »Mut der Ver­zweif­lung« ent­spricht der Dyna­mik unse­res Gefühls­le­bens sel­ber. Wes­halb Aris­to­te­les die Affek­te in sei­ner »Rhe­to­rik« in anti­the­ti­scher Ord­nung, als die ihnen sel­ber inne­woh­nen­de, abhan­deln kann: also Zorn und Sanft­mut, Lie­be und Hass, Furcht und Mut usw. Es gibt auch einen prak­ti­schen Grund in der Rede­si­tua­ti­on sel­ber. Der Umgang mit den Affek­ten geschieht rhe­to­risch auf zwei­fa­che Wei­se: ers­tens durch Mode­rie­rung auf ein aus­ge­gli­che­nes Maß auf dem Wege der Gewöh­nung, die aber einen kon­ti­nu­ier­li­chen Ein­fluss in einem lan­gen Bil­dungs­pro­zeß ver­langt, also der rhe­to­ri­schen Erzie­hung und dem lang­wäh­ren­den red­ne­ri­schen Ein­flus­ses auf das Publi­kum vor­be­hal­ten ist. Zwei­tens aber, und das ver­langt die jeweils aktu­el­le rhe­to­ri­sche Situa­ti­on, die immer ein auch in die­ser Hin­sicht gemisch­tes Publi­kum vor­fin­det, soll der Red­ner auf eine Affekt­re­de durch den Ein­satz des Gegen­af­fekts ant­wor­ten kön­nen. Ich gebrau­che das Wort mit Bedacht: Affek­te ant­wor­ten ein­an­der im Sin­ne der Extre­me, die sich, so ver­schie­den sie sind, doch »berüh­ren«, was ja nichts ande­res heißt, als dass sie nicht bezie­hungs­los neben- oder unter­ein­an­der ste­hen, son­dern – ich gebrau­che den Ver­gleich mit Absicht – »sich etwas zu sagen haben«, weil sie die glei­che Spra­che spre­chen. Es ist eine dia­lek­ti­sche Per­spek­ti­ve, in der, so betrach­tet, die Affek­te in der Rhe­to­rik the­ma­tisch wer­den, und die dem Kon­zept einer bloß mono­lo­gi­schen Gewalt der Affek­te ein ande­res Kon­zept ent­ge­gen­setzt. Der Gewalt kann man wider­ste­hen (das stoi­sche Kon­zept) oder sich fügen im Sin­ne dik­ta­to­ri­scher Unter­wer­fung oder dro­gen­ähn­li­cher Ver­füh­rung (das dem­ago­gi­sche Kon­zept). Wenn die Affek­te frei­lich sel­ber in Wech­sel­wir­kung mit­ein­an­der gebracht wer­den, weil sie poten­zi­ell dazu fähig sind, eröff­net sich eine drit­te Zugangs­wei­se, die sich in das dia­lo­gi­sche Kon­zept der Rede ein­fügt, ja – zu sei­nem Bestand­teil wird. Wie in die­sem Kon­zept der Red­ner Mit­zu­hö­rer und der Hörer Mit­red­ner ist, so wird das Publi­kum auch in der Gefühls­re­de nicht als blo­ßes Opfer von Über­re­dung, son­dern als gleich­be­rech­tig­ter Part­ner selbst in der Geg­ner­schaft begrif­fen. So herrscht die dia­lo­gi­sche Struk­tur nicht bloß inner­halb der Rede sel­ber im Wider­streit der Affek­te, son­dern auch im Ver­hält­nis des Red­ners zum Publi­kum, beru­hend auf der prin­zi­pi­el­len »Ansprech­bar­keit« des Men­schen auf der Ebe­ne sei­ner Gefüh­le. Wobei eine Vor­aus­set­zung in die­ses Kon­zept ein­geht, die nicht selbst­ver­ständ­lich ist: dass näm­lich der Red­ner sel­ber jenen Bil­dungs­pro­zess durch­lau­fen hat, von dem Aris­to­te­les spricht, also den Adres­sa­ten, sein Publi­kum nicht nur als Manö­vrier­mas­se sei­ner Absich­ten begreift und zum Raub sei­ner eige­nen Affek­te macht. Mit Gefüh­len kann man eben­so mani­pu­lie­ren wie mit Zah­len und Argu­men­ten. Die ein­zi­ge rhe­to­ri­sche Ver­si­che­rung dage­gen bie­tet die Rede als Gespräch, weil Wider­spruch Prin­zip des Dia­logs, nicht sein Bei­werk ist. Neh­men wir alles in allem, so bleibt ein geläu­fi­ges Urteil über den aris­to­te­li­schen Red­ner, er sei das Sub­jekt, der Hörer aber bloß »das Objekt des aus­zu­lö­sen­den Affek­tes« an der Ober­flä­che von Bemer­kun­gen zur Wir­kungs­wei­se affek­ti­scher Rede. Die Affek­te sind für den Autor der »Niko­ma­chi­schen Ethik« eben­so wie für den der »Rhe­to­rik« Modi des zuein­an­der Redens durch den Aus­druck davon, wie wir zuein­an­der ste­hen: wir haben es auch bei den Gefüh­len mit Rela­ti­ons­ver­hält­nis­sen zu tun, span­nungs­voll und zu Aus­brü­chen geneigt, doch voll indi­rek­ter Mit­tei­lun­gen über alle Fak­to­ren, die am Rede­ge­sche­hen betei­ligt sind, die objek­ti­ven eben­so wie die subjektiven.

Doch zurück zur Genea­lo­gie der Affekt­re­de, die in der römi­schen Rhe­to­rik eine eige­ne Rich­tung bekommt, die zwar kei­ne Abkehr, aber doch eine Ände­rung bedeu­tet. Wer­fen wir einen Blick in Cice­ros »De ora­to­re«. Dort fin­det sich im 1. Buch eine an Aris­to­te­les anschlie­ßen­de, aber in der ange­deu­te­ten Hier­ar­chie auch von ihm sich schon etwas ent­fer­nen­de Erläu­te­rung der offi­cia des Red­ners: »Es ist näm­lich nötig, dass man sich eine umfas­sen­de Sach­kennt­nis aneig­ne, ohne wel­che die Geläu­fig­keit der Wor­te nich­tig und lächer­lich ist, dass man den Vor­trag selbst nicht allein durch die Wahl, son­dern auch durch die Anord­nung der Wor­te pas­send gestal­te, daß man alle Gemüts­be­we­gun­gen, wel­che die Natur dem Men­schen­ge­schlecht erteilt hat, gründ­lich erfor­sche, weil die gan­ze Kraft und Kunst der Rede (!) sich in der Beru­hi­gung oder Auf­re­gung der Gemü­ter unse­rer Zuhö­rer zei­gen muß. Hin­zu­tre­ten muß gleich­falls eine Art des Wit­zes und der Lau­ne, eine des frei­en Man­nes wür­di­ge Gelehr­sam­keit, Schlag­fer­tig­keit und Kür­ze im Ant­wor­ten und Her­aus­for­dern, ver­bun­den mit fei­ner Anmut und fei­nem Geschmack.«

Die »Beru­hi­gung oder Auf­re­gung der Gemü­ter« wird an die­ser Stel­le von Cice­ro noch nicht wei­ter dif­fe­ren­ziert. Wich­tig ist die Cha­rak­te­ri­sie­rung der Rede­kunst nach einer Rang­fol­ge der Über­zeu­gungs­mit­tel. An ande­rer Stel­le bekräf­tigt Cice­ro sie, und zwar noch durch­aus nach dem Maß­stab der Sach­an­ge­mes­sen­heit: »So kon­zen­triert sich die gesam­te Rede­kunst auf drei Fak­to­ren, die der Über­zeu­gung die­nen: den Beweis der Wahr­heit des­sen, was wir ver­tre­ten, den Gewinn der Sym­pa­thie unse­res Publi­kums und die Beein­fluß­ung sei­ner Gefüh­le im Sin­ne des­sen, was der Fall (!) jeweils erfordert.«