Anders als sei­ne Vor­red­ner und Vor­den­ker setzt Cice­ro nicht auf eine Kul­ti­vie­rung der Affek­te, auf ihre Inter­ak­ti­on mit den ver­nünf­ti­gen Ver­mö­gen und die ihnen eig­ne dia­lek­ti­sche Selbst­ent­fal­tung, son­dern auf mora­li­sche Erzie­hung, auf die »auc­to­ri­tas« des »ora­tor per­fec­tus«, der Weis­heit (»sapi­en­tia«), Wis­sen um das rech­te Maß (»mode­ra­tio«) und mora­li­sche Tugend (»vir­tus») ver­ei­nigt. Wenn auch für die römi­schen Ver­hält­nis­se viel zu schwach, hat­ten die Vor­keh­run­gen Cice­ros gegen den Miß­brauch der Affekt­re­de doch noch einen in sei­nen euro­päi­schen Wir­kun­gen kaum zu über­schät­zen­den Über­schuss. Er begrün­de­te die alle stän­di­schen Unter­schie­de nivel­lie­ren­de Ideo­lo­gie der »Huma­ni­tas« als neu­es Prin­zip des­sen, was wir dem Men­schen als Men­schen schul­dig sind, es ist der tie­fe und lei­den­schaft­li­che Anteil, der den jun­gen Cice­ro aus­drück­lich in sei­nen ers­ten Gerichts­re­den beweg­te. »Hier erschließt sich«, resü­miert Rudolf Schott­län­der, »im Kon­trast zu der vol­len Jus­tiz­bes­tia­li­tät der Ankla­ge, gleich­sam eine neue Dimen­si­on der ›huma­ni­tas‹. Sie wird zu einer Idee, die hoch­ge­hal­ten und rea­li­siert wer­den muß durch das per­sön­li­che und öffent­li­che Ein­tre­ten für Schutz­be­dürf­ti­ge. Die­se Art von Mit­mensch­lich­keit ist mehr als das lie­bens­wür­di­ge, frei­ge­bi­ge, mit­lei­di­ge Sym­pa­thi­sie­ren des ›phil­an­thro­pos‹ im grie­chi­schen Sin­ne.« Es ist, um das zu ergän­zen, ein aufs Höchs­te affekt­haft auf­ge­la­de­nes Ide­al kämp­fe­ri­scher, völ­lig uner­bau­li­cher Mitmenschlichkeit.

Kei­ner­lei Rol­le spielt es in der nächs­ten Sta­ti­on der Geschich­te rhe­to­ri­scher Affek­ten­leh­re, auf die ich nur einen Sei­ten­blick wer­fe, weil sie nur eine Ten­denz, über die ich schon sprach, ver­stärk­te. Ich mei­ne die – eine lan­ge Zeit Cas­si­us Lon­gi­nus, einem Red­ner des 3. Jahr­hun­derts n. Chr. zuge­schrie­be­nen – Rhe­to­rik mit dem Titel »Peri hyp­sous«, »Über die Höhe« oder gän­gi­ger »Über das Erha­be­ne«. Die Ästhe­tik hat sich ihrer spä­ter auf frag­wür­di­ge Wei­se bemäch­tigt. Die anony­me Schrift beginnt mit einer Kri­tik am Ver­fall gera­de der erha­be­nen Bered­sam­keit ihrer Zeit zum Schwulst. Kraft und Begeis­te­rung sei­en Natur­ga­ben, betont der Ver­fas­ser, in cha­rak­ter­li­cher Grö­ße und dem Ver­lan­gen nach Grenz­über­schrei­tung müs­sen sie ihren Ursprung haben. Bewun­de­rung und Erstau­nen gel­ten ihm als die ein­zi­gen wah­ren Wir­kungs­in­ten­tio­nen der erha­be­nen Rede, und sie wer­den beson­ders ein­drück­lich und erfolg­reich durch das über­ra­schen­de, das plötz­lich her­ein­bre­chen­de Uner­war­te­te und Außer­ge­wöhn­li­che erregt. Wört­lich: »Das Erha­be­ne ist der Wider­hall einer gro­ßen See­le«, es grenzt an das Gött­li­che, in ihm erle­ben wir »Höhe­punkt und Gip­fel der Rede«.

Das sind der Sache und viel­fach auch der For­mu­lie­rung nach längst, spä­tes­tens seit Cice­ro, bekann­te Aus­zeich­nun­gen, sogar die Natur­bil­der, mit denen Pseu­do-Lon­gin sei­ne Rhe­to­rik der erha­be­nen Rede illus­triert, fin­den sich in der römi­schen Lite­ra­tur vor­ge­prägt. Die begriff­li­chen Ablei­tun­gen gera­de vom genus gran­de waren ästhe­tisch außer­or­dent­lich frucht­bar, wenn wir an die Ent­wick­lung der Gefühl­s­äs­the­tik im 18. Jahr­hun­dert (Dubos) oder etwa an die Leh­re vom unbe­wußt wie die Natur schaf­fen­den Genie den­ken. Klaus Dock­horn hat den Ein­fluß der Rhe­to­rik auf die­se Theo­rien vor mehr als 60 Jah­ren erst­mals in den Haupt­zü­gen dar­ge­stellt und die rhe­to­ri­sche Geschich­te der Affek­te von dem, wie er es nann­te, Grund­dis­po­si­ti­ons­sche­ma »logos – ethos – pathos« aus ver­folgt. Die Reha­bi­li­tie­rung und weg­wei­sen­de Erneue­rung rhe­to­ri­scher For­schung, die er bewirk­te, erweist sich frei­lich in zwei Punk­ten trotz des gro­ßen Ver­diens­tes als frag­wür­dig. Denn ers­tens rich­te­te sich Dock­horns Inter­es­se fast aus­schließ­lich auf die ästhe­ti­sche Dis­kus­si­on, sie berück­sich­tig­te weder die anthro­po­lo­gi­sche, noch die affekt­theo­re­ti­sche oder gar poli­ti­sche Dimen­si­on des The­mas. Und zwei­tens erscheint mir sei­ne Ein­glie­de­rung der rhe­to­ri­schen Affek­ten­leh­re in einen »vor­ro­man­ti­schen Irra­tio­na­lis­mus« (so pro­gram­ma­tisch im Unter­ti­tel sei­ner Schrift) ganz gegen­läu­fig zu den Kon­zep­ten der klas­si­schen Theo­rien. Zumal im Hin­ter­grund die­ser The­se wohl die bereits irra­tio­na­lis­tisch ver­kom­me­ne Lebens­phi­lo­so­phie der Jahr­hun­dert­wen­de steht – jeden­falls hat sich Dock­horn von einem ihrer Haupt­ver­tre­ter, näm­lich von Alfred Bäum­ler, anre­gen lassen.

Um mit der Zuschrei­bung der Rhe­to­rik zum Irra­tio­na­lis­mus zu begin­nen, so kon­zen­trier­te Dock­horn sei­nen sehr beschei­den sel­ber so genann­ten »kurze(n) und grobe(n) Ent­wurf einer rhe­to­ri­schen Ästhe­tik« auf einen Rhe­to­rik-Begriff, in dem, so wört­lich, »das Irra­tio­na­le (…) ihr bewe­gen­des Prin­zip« ist. Und das in dop­pel­ter Hin­sicht: durch die Stel­lung der Sym­pa­thie­er­re­gung, die von der »Ver­läß­lich­keit des Red­ners«, von sei­nem Ethos also, aus­geht, auf der einen Sei­te; vor allem aber durch die Domi­nanz, die der »emotionale(n) Dis­po­nie­rung oder Zube­rei­tung (sic!) des Hörers«, dem Pathos, für des­sen Beein­flus­sung zukommt. Mit dem sach­li­chen Über­zeu­gen, dem logos oder prag­ma, zusam­men­ge­nom­men gewinnt Dock­horn das, wie er es nennt, »Wir­kungs­sche­ma« der Rhe­to­rik, das Instru­ment für das »prag­ma­ti­sche(…) Gewin­nen­wol­len von Men­schen durch Menschen«.