4 Auto­ri­tät ohne Objektivität

Aris­to­te­les wies Auto­ri­tät in sei­ner »Top­ik« einen wich­ti­gen Platz bei den dia­lek­ti­schen Schlüs­sen zu, in denen es nicht um beweis­ba­re Wahr­hei­ten, son­dern um wahr­schein­li­che Ein­schät­zun­gen geht: »Wahr­schein­li­che Schlüs­se aber sind die­je­ni­gen, die Allen oder den Meis­ten oder den Wei­sen wahr erschei­nen, und auch von den Wei­sen wie­der ent­we­der Allen oder den Meis­ten oder den Bekann­tes­ten und Ange­se­hens­ten.«⁠[13] Die unaus­ge­spro­che­ne Vor­aus­set­zung die­ses Gedan­kens ist: Will man wahr­schein­li­che Schlüs­se mit­tels eines Ver­wei­ses auf Ein­schät­zun­gen von Auto­ri­tä­ten unter­mau­ern, müs­sen die­je­ni­gen, die über­zeugt wer­den sol­len, die­se Auto­ri­tä­ten als sol­che und als in der Sache kom­pe­tent aner­ken­nen, also Auto­ri­tät als Teil des Ethos die­ser Per­so­nen anse­hen. Dies setzt wie­der­um die Kom­pe­tenz und den Wil­len vor­aus, Kom­pe­tenz wert­zu­schät­zen oder in einer bestimm­ten Sache als begrün­det zu erken­nen – also Ver­trau­en oder aus­rei­chen­de Sach­kennt­nis, die Kom­pe­tenz des Kom­pe­ten­ten ein­schät­zen zu kön­nen. Denn eine Auto­ri­tät ohne Akzep­tanz über­zeugt nicht, jeden­falls nicht als Autorität.

Noch in neue­ren Argu­men­ta­ti­ons­theo­rien wird, wie erwähnt, das Auto­ri­täts­ar­gu­ment als ein Stan­dard­ar­gu­ment beschrie­ben.⁠[14] Es hat nicht den Cha­rak­ter des zwin­gen­den logi­schen Bewei­ses, aber der Ver­weis auf eine Auto­ri­tät wird als Zuwachs an Glaub­wür­dig­keit und Plau­si­bi­li­tät gewer­tet. Auto­ri­täts­ar­gu­men­te kön­nen mit­tels Insti­tu­tio­nen, Per­so­nen oder Ver­fah­ren begrün­det wer­den. Der Wei­se, der Gelehr­te, der Erfah­re­ne, der Phi­lo­soph, der Dich­ter, der Exper­te, der »elder sta­tes­man«, der Seel­sor­ger – ein Ver­weis auf ihr Urteil wur­de schon seit den Anfän­gen der Argu­men­ta­ti­ons­theo­rie als wich­ti­ge Stüt­ze in einer Argu­men­ta­ti­on ange­se­hen; wer den gewich­ti­ge­ren Kron­zeu­gen, die bedeu­ten­de­ren, aner­kann­te­ren Auto­ri­tä­ten in sei­ner Argu­men­ta­ti­on anzu­füh­ren wuss­te, dem gelang es, ein Publi­kum und in einer Debat­te zu über­zeu­gen. Das Auto­ri­täts­ar­gu­ment kann statt an Per­so­nen auch an Insti­tu­tio­nen ange­bun­den wer­den, sei es die Wis­sen­schaft, die Sta­tis­tik, die Medi­en, die Phi­lo­so­phie, die Kunst, die Kir­che, die Gerich­te, die Insti­tu­tio­nen der Gesetz­ge­bung. Die­se Auto­ri­tä­ten ver­än­dern sich mit gesell­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen, wie oben dar­ge­legt, häu­fig ent­lang von Ver­än­de­run­gen der Medi­en­welt. Auto­ri­tät in der Poli­tik reich­te lan­ge als Legi­ti­ma­ti­on für Macht; in offe­nen Gesell­schaf­ten soll­te Auto­ri­tät selbst legi­ti­miert wer­den, erst dann kann sie Macht­an­sprü­che legitimieren.

Inso­fern ist ein bestimm­tes Auto­ri­täts­ar­gu­ment durch­aus kri­tisch zu sehen; Josef Kop­per­schmidt befin­det: »Die erläu­ter­te Rück­bin­dung der Digni­tät von Mei­nun­gen an die Respek­ta­bi­li­tät der sie ver­tre­ten­den Sub­jek­te muß schließ­lich argu­men­ta­ti­ons­prak­tisch auf einen Argumenta­tionstyp zurück­grei­fen, der mit dem post­kon­ven­tio­nel­len Anspruchs­ni­veau an argumen­tative Ratio­na­li­täts­stan­dards prin­zi­pi­ell inkom­pa­ti­bel ist.«⁠[15] In der Wis­sen­schaft oder im Recht kön­ne ein Auto­ri­täts­ar­gu­ment, das auf dem Ethos des Red­ners oder Autors grün­det, womög­lich noch eine legi­ti­mie­ren­de Kraft ent­fal­ten, beson­ders »für den Bereich der Poli­tik dürf­te heu­te die Unter­stel­lung pri­vi­le­gier­ter auto­ri­ta­ti­ver Mei­nungs­trä­ger – zumin­dest legi­ti­ma­ti­ons­kri­tisch – chan­cen­los sein, mag eine massen­medial inte­grier­te Gesell­schaft für die Rol­le des publi­zis­ti­schen Mei­nungs­füh­rers fak­tisch auch idea­le Vor­aus­set­zun­gen bie­ten«⁠[16]. Dage­gen lässt sich ein­wen­den: In der von Mas­sen- und soge­nann­ten sozia­len Medi­en gepräg­ten Welt punk­ten die publi­zis­ti­schen Mei­nungs­füh­rer dank der idea­len Vor­aus­set­zun­gen fak­tisch gegen­über der legi­ti­ma­ti­ons­kri­ti­schen Perspektive.

Eine zen­tra­le Fra­ge zum Ver­hält­nis von Rhe­to­rik und Auto­ri­tät und ihrer poli­ti­schen Ambi­va­lenz ist dem­zu­fol­ge, ob und wie sich das Gefü­ge von Ethos, Pathos und Logos ändert: Bleibt Auto­ri­tät ange­bun­den an Sach­kom­pe­tenz? Wie wird sie gewich­tet? Wird eine zuneh­mend kom­ple­xe­re Welt in poli­ti­schen Dis­kur­sen »ver­kürzt« dar­ge­stellt, kom­men die­se Dis­kur­se in ihrer Wir­kung auf das Publi­kum kaum über Affekt­er­re­gung hin­aus – und es gelingt immer weni­ger, eine Vor­aus­set­zung von Auto­ri­täts­zu­schrei­bung sta­bil zu erfül­len: näm­lich dass die Ein­schät­zung dar­über geteilt wird, wer war­um und wofür als Auto­ri­tät anzu­se­hen wäre.