Mythen des Alltags

Rot werden

Wenn’s einem ins Gesicht geschrieben steht

Von Theresa Haugg


»Mein Gegen­über ist nackt, mein Gegen­über ist nackt, mein Gegen­über ist nackt.« Die­ses Man­tra soll man sich immer und immer wie­der vor­sa­gen und vor­stel­len. Das soll hel­fen, nicht rot zu wer­den, so ver­spricht es zumin­dest das top-gerank­te You­Tube-Video: »nicht rot wer­den - zwei psy­cho­lo­gi­sche Tricks die SOFORT hel­fen!«. Funk­tio­niert: nicht. Wie auch? Eine der­ar­ti­ge Vor­stel­lung von sei­nem Gegen­über ist schließ­lich die per­fek­te Vor­la­ge für ein pur­pur­far­be­nes Gesicht. Sofort­hil­fe durch ein Ver­spre­chen, das genau das Gegen­teil bewirkt – dan­ke, YouTube. 

Ein leich­tes Krib­beln macht sich auf der Nase breit, zieht sich immer wei­ter nach links und rechts über die Wan­gen­kno­chen bis hoch an den Haar­an­satz – oder sogar noch wei­ter? Kann die Kopf­haut rot wer­den? Wie ein Pelz über­zieht es das kom­plet­te Gesicht. Ein star­ker Wil­le hilft jetzt auch nicht mehr. Die Blut­ge­fä­ße erwei­tern sich. Das Gesicht pocht. Die Scham­rö­te kommt zu ihrem Höhe­punkt … Wäre das nicht schon unan­ge­nehm genug, hat man nun auch noch den Faden ver­lo­ren. Und das alles vom gan­zen »Bloß-nicht-rot-wer­den-Geden­ke«. Den Satz jetzt bloß irgend­wie zu Ende brin­gen und dann erst­mal still sein. Rück­zug, run­ter­fah­ren, Blut aus dem Kopf flie­ßen lassen. 

Jetzt hilft auch kein »ach, das ist doch total char­mant, wenn Sie rot wer­den«, das wäre ver­gleich­bar tröst­lich, wie gesagt zu bekom­men, dass der fet­te Eiter­pi­ckel knapp über dem Mund, tage­lang mal­trä­tiert, blu­tig gekratzt, und mit zu dunk­lem Make-up zu gespach­telt, Ähn­lich­kei­ten mit einem Schön­heits­fleck habe.

Dar­win war der Auf­fas­sung, dass das Errö­ten die wohl »cha­rak­te­ris­tischs­te und mensch­lichs­te aller Aus­drucks­for­men«[1] sei. So galt es Ende des 19. Jahr­hun­derts sogar als schick, zu errö­ten. Einem roten Schä­del wur­de inne­rer Anstand, mensch­li­che Wür­de und Moral­emp­fin­den[2] bei­gemes­sen. Schön. 

Auch schön, dass wir laut Wis­sen­schaft­lern heu­te noch Men­schen, die errö­ten, sehr viel nach­sich­ti­ger behan­deln, sie für freund­li­cher, sym­pa­thi­scher und beson­ders ver­trau­ens­wür­dig hal­ten, selbst dann, wenn sie schon mal unzu­ver­läs­sig waren.[3] Doch all die­se Erkennt­nis­se kön­nen den Moment des Grau­ens, die feu­er­ro­ten Wan­gen und das Sich-des­sen-bewusst-wer­den nicht beschönigen.

So ger­ne tei­len wir Emo­tio­nen mit der wei­ten Welt. Das vor­teil­haf­te Sel­fie: nett lächeln, 
ver­füh­re­risch insze­nie­ren, hel­den­haft posie­ren, komisch drein­schau­en oder melan­cho­lisch in die Fer­ne bli­cken. Alle Aus­drucks­for­men haben eines gemein: die Mög­lich­keit der Kon­trol­le. Mit dem Rot-Wer­den ist das anders, das pas­siert ein­fach. Zack – das Sinn­bild für Unsi­cher­heit und Scham steht einem heiß ins Gesicht geschrie­ben. Und das lässt sich eben nicht so ein­fach mit einem Fil­ter endsättigen.

Man kann das Blatt nun dre­hen und wen­den wie man will, es blei­ben drei Optio­nen: kei­ne Inter­ak­ti­on mit ande­ren Men­schen, eine Mas­ke tra­gen, oder Dar­win glau­ben schen­ken und damit leben lernen.


Ausgabe Nr. 18, Frühjahr 2021

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