»Mein Gegenüber ist nackt, mein Gegenüber ist nackt, mein Gegenüber ist nackt.« Dieses Mantra soll man sich immer und immer wieder vorsagen und vorstellen. Das soll helfen, nicht rot zu werden, so verspricht es zumindest das top-gerankte YouTube-Video: »nicht rot werden - zwei psychologische Tricks die SOFORT helfen!«. Funktioniert: nicht. Wie auch? Eine derartige Vorstellung von seinem Gegenüber ist schließlich die perfekte Vorlage für ein purpurfarbenes Gesicht. Soforthilfe durch ein Versprechen, das genau das Gegenteil bewirkt – danke, YouTube.
Ein leichtes Kribbeln macht sich auf der Nase breit, zieht sich immer weiter nach links und rechts über die Wangenknochen bis hoch an den Haaransatz – oder sogar noch weiter? Kann die Kopfhaut rot werden? Wie ein Pelz überzieht es das komplette Gesicht. Ein starker Wille hilft jetzt auch nicht mehr. Die Blutgefäße erweitern sich. Das Gesicht pocht. Die Schamröte kommt zu ihrem Höhepunkt … Wäre das nicht schon unangenehm genug, hat man nun auch noch den Faden verloren. Und das alles vom ganzen »Bloß-nicht-rot-werden-Gedenke«. Den Satz jetzt bloß irgendwie zu Ende bringen und dann erstmal still sein. Rückzug, runterfahren, Blut aus dem Kopf fließen lassen.
Jetzt hilft auch kein »ach, das ist doch total charmant, wenn Sie rot werden«, das wäre vergleichbar tröstlich, wie gesagt zu bekommen, dass der fette Eiterpickel knapp über dem Mund, tagelang malträtiert, blutig gekratzt, und mit zu dunklem Make-up zu gespachtelt, Ähnlichkeiten mit einem Schönheitsfleck habe.
Darwin war der Auffassung, dass das Erröten die wohl »charakteristischste und menschlichste aller Ausdrucksformen«[1] sei. So galt es Ende des 19. Jahrhunderts sogar als schick, zu erröten. Einem roten Schädel wurde innerer Anstand, menschliche Würde und Moralempfinden[2] beigemessen. Schön.
Auch schön, dass wir laut Wissenschaftlern heute noch Menschen, die erröten, sehr viel nachsichtiger behandeln, sie für freundlicher, sympathischer und besonders vertrauenswürdig halten, selbst dann, wenn sie schon mal unzuverlässig waren.[3] Doch all diese Erkenntnisse können den Moment des Grauens, die feuerroten Wangen und das Sich-dessen-bewusst-werden nicht beschönigen.
So gerne teilen wir Emotionen mit der weiten Welt. Das vorteilhafte Selfie: nett lächeln, verführerisch inszenieren, heldenhaft posieren, komisch dreinschauen oder melancholisch in die Ferne blicken. Alle Ausdrucksformen haben eines gemein: die Möglichkeit der Kontrolle. Mit dem Rot-Werden ist das anders, das passiert einfach. Zack – das Sinnbild für Unsicherheit und Scham steht einem heiß ins Gesicht geschrieben. Und das lässt sich eben nicht so einfach mit einem Filter endsättigen.
Man kann das Blatt nun drehen und wenden wie man will, es bleiben drei Optionen: keine Interaktion mit anderen Menschen, eine Maske tragen, oder Darwin glauben schenken und damit leben lernen.
- [1] Darwin, Charles: The Expression of the Emotions in Man and Animals. London 1872. S. 310. Übersetzung: Theresa Haugg.
- [2] https://www.businessinsider.de/warum-erroeten-manche-menschen-2019-5, Stand: 23.6.2021.
- [3] https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/koerpersignale-die-sprache-der-haut-1.1666124-2, Stand: 23.6.2021.