Mythen des Alltags
Sinfonie vorm Fenster
Wenn die Fußgängerzone zum Resonanzkörper wird
Klack, klack, klack, klack
bruuuub - tipp, tipp - bruuuub - tipp.
Dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong.
»ICH HAAB KEINEE GEBÄÄÄHRMUTTER MEEEHR!!!«
»Die Besten Hits von heute!«
raaa -- rumms … raaa -- rumms … raaa- …- rumms.
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Dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong, dong,
klirr.
Die erste Zeit in einer neuen Wohnung ist oft deshalb so aufreibend, weil alte Gewohnheiten aufgebrochen werden und neue erst entstehen. Das Klima ist ein anderes, es riecht ungewohnt und die Räume müssen noch mit Leben befüllt werden. Etwas, das uns besonders viel über die Umgebung, den Standort und die Leute in unmittelbarer Nähe verrät, sind die Umgebungsgeräusche. Ein zur Fußgängerzone ausgerichtetes Fenster kann dabei Fluch und Segen zugleich sein. Ungefiltert dringt alles, was der Resonanzkörper einer eng bebauten Gasse verspricht, in das Innere der Wohnung.
Wenn man die vielen akustischen Szenarien jedoch nicht als Störfaktor, sondern als Teile des Gesamten, als Kapitel eines Hörbuchs, als Sätze eines Konzertes aufnimmt, so bekommen die darin vorkommenden Akteure einen ganz anderen Stellenwert. Die Straße wird zur Konzerthalle, das Fenster zur Tribüne, die Fußgänger zu Musikern. Jeden Morgen beginnt aufs Neue eine einmalige Vorstellung, zu der jeder Bewohner der Straße eingeladen ist. Im Lauf des Tages entsteht eine Sinfonie, geformt von einem Orchester das sich seiner Rolle gar nicht bewusst ist.
Der Vorhang geht auf.
Erster Satz.
Das Klackern und Trappeln von vielen Schuhpaaren auf dem Kopfsteinpflaster wird langsam lauter. crescendo.
Die Klänge verraten den Schauplatz der Handlung: Wir befinden uns in einer Altstadt. Ohne viele Worte kommen die Menschen miteinander aus, es ist noch früh am Morgen. Die Taube tritt auf die Bühne. Mit ihren Füßchen kratzt sie laut gurrend und unrhythmisch über das metallene Fensterbrett. Ihr skurriler Tanz lässt das Orchester in den Hintergrund treten.
Zweiter Satz.
Kirchenglocken schlagen zwölf Mal. Sie läuten den dynamischen Teil des Stückes ein. fortissimo.
»ICH HAAB KEINEE GEBÄÄÄHRMUTTER MEEEHR!!!« schreit der Solist vorwurfsvoll klagend aus seiner heiseren Männerkehle. Etwas entfernter hört man eine aufgeregte Radiostimme das nächste Lied ankündigen.
Ein lautes, schnell wummerndes Scheppern unterbricht es nach den ersten zwei Sekunden. Es klingt, als würde Metall auf Stein klopfen; ein tiefer Bass und ein grelles Klirren schmettern ein Duett. Motorengeräusche werden lauter. Tür auf - Tür zu, Tür auf - … irgendwo klingelt es, - Tür zu, wieder der Motor. Viele Instrumente setzen ein, bis es fast unerträglich hektisch und laut auf der Bühne ist.
Dritter Satz.
Dann plötzlich: Stille. piano.
Nur ein einzelnes Paar Schuhe entfernt sich dumpf.
Acht Glockenschläge. Ein hohes Klirren von sich berührenden Glasflaschen. Im ersten Stock wird aus Gemurmel Stimmen, aus Stimmen Gelächter.
Es klingelt an der Tür.
An meiner Tür!
Ich schließe das Fenster, mache den Vorhang zu und betrete die Bühne.