Essay
Über die Zumutbarkeit der Wahrheit
Beim Jahreswechsel 2021/2022 in Corona Zeiten verfasst
Von Ernst Peter Fischer
Einige Zitate vorab:
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen aus.
Gotthold Ephraim Lessing, 1777
Die Wahrheit führt in vielen Fällen zum politischen Tod.
Minister Karl Lauterbach, Anfang 2022
Vom Wahrsagen lässt sich leben, aber nicht vom Wahrheit sagen.
Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemanden den Bart zu versengen.
Georg Christoph Lichtenberg in seinen »Sudelbüchern« im späten 18. Jahrhundert
Wahrheit meint die Übereinstimmung zwischen dem Wissen eines erkennenden Subjektes und dem Seienden.
laut Wikipedia 2022
Wahrheit – im logischen Sinn die Übereinstimmung unserer Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Gesetzen des Denkens oder mit dessen Gegenständen, dem Sein.
Meyers Konversationslexikon 1890
Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen.[1]
Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.
Friedrich Nietzsche, 1872, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.
Heinrich von Kleist, 1811
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
Ingeborg Bachmann, 1959
Wissenschaft ist die Suche nach der Wahrheit – nicht ein Spiel, in dem man seinen Gegner zu besiegen versucht.
Linus Pauling, 1954
Ein persönlicher Prolog
Der Aufklärer Voltaire[2] meinte im 18. Jahrhundert, die unbestreitbare Wahrheit für das Dasein bestehe darin, dass es so etwas wie die beste Welt-, Staats- und Gesellschaftsordnung nicht gibt. Wenn politisch aktive Menschen nun für unerreichbare Ideale kämpfen, werde ihnen gegenüber Toleranz im Denken notwendig. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker meinte im 20. Jahrhundert, die unbestreitbare Wahrheit für die Wissenschaft bestehe darin, dass sie die Geheimnisse der Welt nicht aufdecken und nur vertiefen kann. Es gibt die eine korrekte Antwort auf Fragen ebenso wenig wie die beste Ordnung im Leben. Wenn Menschen nun eine korrekt wirkende und ihnen richtig erscheinende Erklärung von irdischen Dingen und ihren Abläufen präsentieren, sollte man ihrem Anspruch mit historisch-kritischer Gelassenheit begegnen. Die bittere Wahrheit ist leider, dass der aktuelle Stand der Allgemeinbildung hierzulande diese Einstellung nahezu unmöglich macht und verhindert.
Das Streben nach Wissen
Menschen streben von Natur aus nach Wissen, wie sie alle wissen und wie Aristoteles im ersten Satz seiner »Metaphysik« Jahrhunderte vor Christi Geburt geschrieben hat. Ihm zufolge verhalten sich Menschen so, weil sie Freude an der Wahrnehmung der Welt haben – im griechischen Original steht »aisthesis«. Es geht bei der wahrlich sinnvollen Tätigkeit der Sinne um das Wahre, was in der deutschen Sprache auch als erste Silbe im Begriff des Wahrnehmens zum Ausdruck kommt. Menschen versuchen, mit Hilfe dieser von Natur aus gegebenen ästhetischen Fähigkeit die Wahrheit zu schauen, die sie nach erfolgter sinnlicher Erfahrung ihrem Wissen zufügen wollen, wobei allen Menschen bekannt sein wird, dass es bei dieser Umsetzung aufzupassen gilt. Einige geben sich aufrichtige Mühe, die mit ihrem Wissen verbundene Wahrheit zu erfassen, wie Lessing anmerkt, während er 1777 »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« nachdenkt (was eine paulinische Formulierung aus dem Korintherbrief aufgreift). Man würde den großen Mann dazu gerne fragen, ob es tatsächlich so ist, dass Menschen bei ihrer Suche nach Erkenntnissen versuchen, im Wortsinn »hinter die Wahrheit zu kommen«, wie es bei dem Schöpfer von »Nathan der Weise« heißt? Sind Menschen bei ihrem Suchen nach ihr nicht die ganze Zeit schon dort? Die Menschen rennen doch hinter der Wahrheit her, wie der Volksmund sagt. Oder verhält sich die Sache mit der Wahrheit in Wahrheit gerade andersherum, nämlich so, wie Robert Musil es im frühen 20. Jahrhundert gesehen und in seinem Roman »Mann ohne Eigenschaften« beschrieben hat?
Musil zufolge leben seine Zeitgenossen erstmals in einem wissenschaftlichen Zeitalter, und sie unterliegen seitdem und über den heutigen Tag hinaus einem Zwang zum Wissen. »Man kann nicht nicht wissen wollen«, wie es Musil formuliert. Viele leiden unter einer »Trunksucht am Tatsächlichen«, wie der »Mann ohne Eigenschaften« verkündet«, der befürchtet, dass im bürgerlichen Leben dadurch etwas aus dem Gleichgewicht gerät. Denn wenn das Wissen zur Leidenschaft wird, dann ist es »gar nicht richtig, dass der Forscher der Wahrheit nachstellt«, und dann gilt vielmehr das Umgekehrte, und das heißt, die Wahrheit »stellt ihm nach«, wie im Roman ausdrücklich festgestellt wird, und jetzt kann sich jeder oder jede fragen, was seine oder ihre Sicht auf die Wahrheit zu erkennen gibt. Lockt sie die Menschen oder jagt sie die Menschen und treibt uns nun vor sich her? Und wenn sie die Jägerin ist, wo will die Wahrheit die gejagten Menschen zuletzt stellen, um ihnen die Chance zu geben, ihr ins Gesicht zu schauen?
- [1] Eine Metonymie setzt ein Wort für ein anderes. Wer Schiller liest, will sagen, dass er oder sie einen Text von Schiller liest, und wer Kreml sagt, meint meistens kein Gebäude, sondern die russische Regierung. Wer die Wahrheit durch die Blume sagt, benutzt eine Metapher, aber das ist kein Schnee von gestern, sondern der Schnee vom vergangenen Jahr. Und anthropomorph kann man sagen, dass Zellen davon träumen, zwei Zellen zu werden.
- [2] Von Voltaire stammt der Satz: »Ärzte schütten Medikamente, von denen sie wenig wissen, zur Heilung von Krankheiten, von denen sie noch weniger wissen, in Menschen, von denen sie gar nichts wissen.« Das ist die Wahrheit.
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).