Sol­cher Mut gehört allein des­halb zum Wesen der Wahr­heits­su­che, weil Wis­sen­schaft­ler am Anfang ihres Weges nicht wis­sen, wo sie ankom­men wer­den, was ganz direkt der Mönch Men­del ange­spro­chen hat, als er 1866 sei­ne »Ver­su­che über Pflan­zen­hy­bri­den« vor­stell­te. In sei­nen »Ein­lei­ten­den Bemer­kun­gen« weist er aus­drück­lich auf »eini­gen Muth« hin, den er auf­brin­gen muss­te, um die künst­li­chen Befruch­tun­gen in sei­nem Klos­ter­gar­ten vor­zu­neh­men, die ihn berühmt gemacht haben. Wer wuss­te denn damals zu sagen, wel­che neu­en Arten dabei ent­ste­hen und ob man mit sei­nen eige­nen Hän­den Gott ins schöp­fe­ri­sche Hand­werk greift? Aller­dings könn­te es sein, dass Men­dels Mut schlicht und ein­fach damit zu tun hat­te, dass der Mönch geschlecht­li­che Fort­pflan­zun­gen von Erb­sen ana­ly­sie­ren woll­te, wäh­rend sein Bischof noch mein­te, dass in den Gar­ten­bee­ten kei­ne Sexua­li­tät statt­fin­de und die Ver­meh­rung der Pflänz­chen ohne Ein­satz von Geschlechts­or­ga­nen zustan­de käme. Zeu­gung galt in Men­dels Tagen als etwas Gött­li­ches, wäh­rend sie in Wahr­heit etwas Mensch­li­ches ist. Die Wahr­heit, dass Erb­sen Sex haben, war der Kir­che selbst noch im 19. Jahr­hun­dert unzumutbar.

Übri­gens – wenn es wahr ist, dass der Mensch im Inners­ten der Welt auf sich selbst trifft, dann ist erst recht wahr, dass die­se Wahr­heit ein Geheim­nis bleibt. Wer kennt sich denn schon selbst? Dar­in besteht eine beson­de­re Qua­li­tät von Wis­sen­schaft – das Geheim­nis der Welt zu ver­tie­fen, wenn sie den Schlei­er über der Wahr­heit anhebt und ihr ins Gesicht zu schau­en ver­sucht. Des­halb kann Wis­sen­schaft auch nie abge­schlos­sen wer­den, was für Wil­helm von Hum­boldt zu der Defi­ni­ti­on die­ses mensch­li­chen Tuns gehör­te, das er an den Uni­ver­si­tä­ten in Frei­heit und Ein­sam­keit ermög­li­chen woll­te. Je mehr man weiß, des­to mehr will man wis­sen und kann man erfah­ren. Das ist die Wahr­heit des Wis­sens. Es stimmt nicht, was Sokra­tes sagt – Ich weiß, dass ich nicht weiß. Zutref­fen­der wäre es zu sagen: Ich weiß, dass ich wis­sen will und ler­nen kann, und zwar immer mehr und ohne Ende. Das ist die Wahr­heit des mensch­li­chen Lebens.

Die zumut­ba­re Wahrheit

Wahr­heit ist ein gro­ßes Wort und ein hoher Anspruch. Es gibt nicht nur eine, son­dern vie­le Arten, sich um die Wahr­heit zu bemü­hen, und ver­schie­de­ne Men­schen wer­den mit der »veri­tas« ver­schie­de­ne Vor­stel­lun­gen ver­bin­den. Eini­ge ein­fa­che Fra­gen zu die­sem The­ma lau­ten: Wie kön­nen Men­schen die Wahr­heit auf­spü­ren und ihr gegen­über­tre­ten? Gab es Momen­te oder Epo­chen, in denen krea­ti­ve Geschöp­fe dazu in der Lage und der Wahr­heit aus­rei­chend nah gekom­men waren? Was konn­ten sie in die­sem Fall sehen? Was ist in dem Augen­blick der Wahr­heit in ihnen vor­ge­gan­gen und danach mit ihnen pas­siert? Haben sie und ande­re Men­schen den Glanz ihres Scheins aus­ge­hal­ten? Darf man für die Wahr­heit töten? Soll­te man sich für sie tot­schla­gen las­sen? Ist die von einem Men­schen erkann­te Wahr­heit ande­ren zumut­bar? 

Fra­gen über Fra­gen, und die zuletzt genann­te Ver­si­on ist mir per­sön­lich in den Sinn gekom­men, als sie bereits affir­ma­tiv beant­wor­tet war, und zwar durch die Schrift­stel­le­rin Inge­borg Bach­mann. Sie ist 1959 für »Der gute Gott von Man­hat­tan« mit dem Hör­spiel­preis der Kriegs­blin­den aus­ge­zeich­net wor­den und hat ihrer Dan­kes­re­de den wun­der­sa­men und küh­nen Titel ver­lie­hen: »Die Wahr­heit ist den Men­schen zumut­bar.«[5] Die damals 33-jäh­ri­ge Inge­borg Bach­mann spricht in ihrer Rede zum einen von der Mög­lich­keit der Schrift­stel­ler – eine Frau ver­wen­det hier das gene­ri­sche Mas­ku­li­num –, »die ande­ren zur Wahr­heit zu ermu­ti­gen«, und erwähnt zum zwei­ten die Auf­ga­be die­ser ande­ren, »die Wahr­heit von ihm [dem Schrift­stel­ler, zu] for­dern«, um Men­schen »in den Stand« zu ver­set­zen, dass »ihnen die Augen auf­ge­hen«, was bei den Kriegs­blin­den auf die inne­ren Seh­or­ga­ne anspielt, mit denen die Men­schen seit der Zeit der Roman­tik tie­fer sehen kön­nen als die Auf­klä­rer mit den äuße­ren Augen im Kopf. »Die Wahr­heit näm­lich [die sie dabei zu Gesicht bekom­men] ist dem Men­schen zumut­bar«, wie sie den Kriegs­blin­den ein­dring­lich ver­si­chert und womit sie einem damals jun­gen Men­schen einen Satz geschenkt hat, der ihn sein Leben lang nicht mehr los­las­sen soll­te. Ihm ging und geht es dabei nicht um die Geschichts- oder Glau­bens­wahr­hei­ten, mit denen zum Bei­spiel Les­sing beschäf­tigt war, und auch nicht um die For­mel, mit der man einem Gericht ver­si­chert, »die Wahr­heit zu sagen, die gan­ze Wahr­heit und nichts als die Wahr­heit«, was unter Psy­cho­lo­gen zu der kurio­sen The­se geführt hat, »die Wahr­heit ist die Erfin­dung eines Lüg­ners« (Heinz von Förster).

Dem Bach­mann-Leser ging und geht es um die Ein­sich­ten der Natur­for­schung, die ihm immer schon mehr als nur rich­tig erschie­nen sind und es den Men­schen ermög­li­chen, etwas Wah­res in der Tie­fe ein­se­hen und das hier im Inners­ten Geschau­te aus­drü­cken zu kön­nen, also etwas über den Bereich zu wis­sen, aus dem die wahr­nehm­ba­re Welt mit ihrer Ener­gie ent­springt. Es ist zum Bei­spiel rich­tig, dass es Ato­me gibt, aber es ist gleich­zei­tig wahr, dass Ato­me kei­ne Lego­stei­ne sind und die Welt nicht aus ihnen bestehen kann (was schon ange­deu­tet wur­de und spä­ter noch ein­mal zur Spra­che kommt). Es ist zudem rich­tig, dass Men­schen aus Zel­len bestehen, aber wahr ist zugleich, dass die­se Zel­len nicht nur ihren Ort in einem Kör­per ein­neh­men, son­dern ihn auch ken­nen und reagie­ren kön­nen, wenn Ände­run­gen in ihrer Umge­bung dies erfor­dern. Es ist bereits für Zel­len wahr, was der Teu­fel Mephis­to zu Faust im Stu­dier­zim­mer sagt: »Du bist am Ende, was du bist.« Eine Zel­le ist am Ende ihrer Evo­lu­ti­on zwar Teil eines Men­schen, sie bleibt dabei aber immer, was sie ihrem Wesen nach ist, näm­lich ein leben­di­ges Gan­zes, das sich tei­len kann und das nicht nur tut, wenn es nötig ist – beim Schlie­ßen einer Wun­de –, son­dern auch, wenn es schäd­lich wird – bei der Ent­ste­hung einer Wuche­rung, die zum Krebs wer­den kann. Eine Zel­le will zwei Zel­len wer­den, und das ist die Wahr­heit über das zugleich dyna­mi­sche und sta­bi­le Ele­ment des Lebens – und viel­leicht sogar die gan­ze Wahrheit.


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