Buchbesprechung

»Was ist ein Bild?«

Doris Bachmann-Medick untersucht die »Cultural Turns«

In wel­chem Kon­text fin­det die aktu­el­le Dis­kus­si­on um das Bild statt? Einen Über­blick dar­über gibt das Buch »Cul­tu­ral Turns« von Doris Bach­mann-Medick. Spe­zi­ell das Kapi­tel über den ico­nic turn kann für Desi­gner sehr infor­ma­tiv sein. Denn es ent­hält wich­ti­ge Fra­gen zum Umgang mit Bil­dern, die gera­de im Zusam­men­hang mit der Eta­blie­rung einer Design­wis­sen­schaft von Belang sind.

Eine Kar­te der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten zu zeich­nen ist das Ziel von Doris Bach­mann-Medick, Lite­ra­tur- und Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Statt sich aller­dings an The­men­fel­dern oder Defi­ni­tio­nen des Kul­tur­be­grif­fes ent­lang­zu­tas­ten, ana­ly­siert Bach­mann-Medick den metho­di­schen Wan­del der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten anhand sich ändern­der Leit­vor­stel­lun­gen des Kul­tu­rel­len. Nach­dem die lin­gu­is­ti­sche Wen­de im 20. Jahr­hun­dert das Erken­nen von Wirk­lich­keit an die Spra­che knüpf­te, folg­ten, eine Rei­he theo­re­ti­scher Per­spek­tiv­wech­sel; dies hält bis heu­te an und nimmt immer mehr zu. Unter der jewei­li­gen Leit­me­ta­pher »Kul­tur als …« för­der­ten sie neue Erkennt­nis­me­tho­den und Ana­ly­se­ka­te­go­rien inner­halb der Sozi­al- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, die vor allem in der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur­anthro­po­lo­gie und Eth­no­lo­gie fuß­ten. Schließ­lich lös­ten sich in den 1960er Jah­ren die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten als eigen­stän­di­ge For­schungs­dis­zi­plin her­aus. Sie präg­ten ein erwei­ter­tes Kul­tur­ver­ständ­nis, das sich über die Phä­no­me­ne der Hoch­kul­tur hin­aus auf das Popu­lä­re und All­täg­li­che ausdehnt.

Bach­mann-Medick wählt kon­kret sie­ben turns, die sich ihrer Ansicht nach zur gro­ßen kul­tu­rel­len Wen­de zusam­men­set­zen: inter­pre­ta­ti­ve turn, per­for­ma­ti­ve turn, refle­xi­ve turn/literary turn, post­co­lo­ni­al turn, trans­la­tio­nal turn, spa­ti­al turn und ico­nic turn. Sie begrün­det ihre Aus­wahl mit dem Kri­te­ri­um, dass es sich erst dann um einen turn hand­le, wenn ein Wech­sel von der »Gegen­stands­ebe­ne« zur »Ana­ly­se­ebe­ne« statt­fin­det. Erst wenn das »Erkennt­nis­ob­jekt« zum »Erkennt­nis­mit­tel« wird, ent­ste­hen neue For­schungs­kon­zep­te und -fel­der. Anhand die­ser Defi­ni­ti­on eines turn ori­en­tiert sich ihre fol­gen­de Unter­su­chung. Auch alle zur­zeit auf­kom­men­den Neu­fo­kus­sie­run­gen kön­nen anhand die­ses Kri­te­ri­ums geprüft wer­den. Erst dann zeigt sich, ob es sich wirk­lich um einen umgrei­fen­den und nach­hal­ti­gen Per­spek­ti­ven­wech­sel han­delt. Bach­mann-Medick distan­ziert sich aller­dings klar davon, die kul­tu­rel­len Wen­den die dem lin­gu­i­stic turn folg­ten, eben­falls als Para­dig­men-Wech­sel zu ver­ste­hen. Es han­delt sich bei den cul­tu­ral turns nicht um revo­lu­tio­nä­re Umwäl­zun­gen des Theo­rie­ge­bäu­des. Dazu müss­te ein ein­heit­li­ches kul­tur­wis­sen­schaft­li­ches Welt­bild erst ein­mal exis­tie­ren. Die Sicht­wei­sen inner­halb der Dis­zi­plin sind viel zu frag­men­tiert um von umgrei­fen­den Para­dig­men-Sprün­gen spre­chen zu kön­nen. Sie ver­steht die turns des­halb nicht als unum­kehr­ba­re Umwäl­zun­gen, son­dern als expe­ri­men­tel­le Per­spek­ti­ven­wech­sel – nicht line­ar nach vor­ne gerich­tet, son­dern gut und ger­ne auch in einer Kehrt­wen­dung zurück. Die fol­gen­den turns sol­len daher nicht in zeit­li­cher Abfol­ge gele­sen wer­den, son­dern als neben­ein­an­der her lau­fen­de, sich gegen­sei­tig beein­flus­sen­de For­schungs­per­spek­ti­ven. Dabei unter­sucht sie jeden turn hin­sicht­lich Ent­ste­hungs­kon­text und Her­aus­bil­dung, stellt Begrif­fe, Pro­ble­me und Metho­dik dar, unter­sucht die Aus­for­mung in ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen und kri­ti­schen Stim­men. Jeder Unter­su­chung eines turn folgt eine aus­führ­li­che Biblio­gra­fie. Durch sei­ne for­ma­le und inhalt­li­che Struk­tur ist es dar­um mög­lich, ein­zel­ne Kapi­tel des Buches sepe­rat zu betrach­ten, z. B. um sie als Unter­richts­ma­te­ri­al zu verwenden.

»Was ist ein Bild?« ist die Leit­fra­ge, um die sich auf­kom­men­de bild­wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­pli­nen im Kon­text des ico­nic turn ran­ken. Die­se Fra­ge, so Bach­mann-Medick, kommt meist dann auf, wenn sich neue bild­ge­ben­de Ver­fah­ren ent­wi­ckeln. Bach­mann-Medick sieht heu­te vor allem die Kom­bi­na­ti­on von Bil­dern, Medi­en und gesell­schaft­li­chen Insze­nie­run­gen als Aus­lö­ser für eine erneu­te Hin­wen­dung zum Visu­el­len. Die­ses wur­de im Zuge des lin­gu­i­stic turn in der west­li­chen Gesell­schaft eher an den Rand gedrängt. Wie auch der Kul­tur­be­griff selbst hat sich das Bild­ver­ständ­nis über das Kunst­werk hin­aus auf Bil­der des All­tags aus­ge­dehnt. Sie dür­fen nicht mehr nur als Zei­chen, Abbild oder Illus­tra­ti­on ver­stan­den wer­den, son­dern auch in ihrer direk­ten Wir­kung, unab­hän­gig von der sprach­li­chen Inter­pre­ta­ti­on. Bach­mann-Medick gibt einen umfas­sen­den Über­blick über die sich eta­blie­ren­den Wis­sen­schaf­ten, die sich mit Visu­el­lem beschäf­ti­gen: eine his­to­ri­sche Bild­wis­sen­schaft, die sich aus der Kunst­ge­schich­te her­aus ent­wi­ckelt, eine Bild-Anthro­po­lo­gie, eine Bild-Medi­en­wis­sen­schaft, eine trans­kul­tu­rel­le Bild­kul­tur­wis­sen­schaft, Visu­al Stu­dies und eine all­ge­mei­ne Bild­wis­sen­schaft. Fra­gen des Bil­des erstre­cken sich zudem in zahl­rei­che ande­re Wis­sen­schaf­ten und Anwen­dun­gen: von der Öko­no­mie bis hin zu den Natur­wis­sen­schaf­ten, von Power-Point-Prä­sen­ta­tio­nen über Gehirn-Scans bis hin zu Über­wa­chungs­bil­dern. Vor allem im Bereich der Medi­en­wis­sen­schaf­ten regt Bach­mann-Medick eine visu­el­le Rhe­to­rik an, die Bil­der auf ihrer Wir­kungs­macht über­prüft. Der ico­nic turn zielt so ins­ge­samt auf eine Bild-Kom­pe­tenz ab, die Bil­der (ver­webt mit dem refle­xi­ve turn) als kon­stru­iert und mani­pu­lier­bar ver­steht und ihre Objek­ti­vi­tät in Fra­ge stellt. Aus der Ver­bin­dung mit dem per­for­ma­ti­ve turn erge­ben sich neue For­schungs­aspek­te hin­sicht­lich mensch­li­cher Insze­nie­rungs­for­men mit und durch Bilder.

Es geht nicht nur dar­um, Bil­der zu ver­ste­hen, denn dann hät­te, so Bach­mann-Medick, der ico­nic turn als sol­cher kei­ne Berech­ti­gung. Viel­mehr steht die Fra­ge im Vor­der­grund, wie man die Welt durch Bil­der ver­ste­hen kann. Die­ser erkennt­nis­theo­re­ti­schen Bedeu­tung des ico­nic turn gibt Bach­mann-Medick weni­ger Chan­cen und bezieht dabei eine kla­re Pos­ti­ti­on: Tex­te wer­den nicht durch Bil­der abge­löst, die­se sind immer noch auf Inter­pre­ta­ti­on ange­wie­sen. Der ico­nic turn voll­zieht aber einen wich­ti­gen Schritt, indem er die Spra­che durch das Zei­gen ergänzt.

Eine sol­che Beur­tei­lung zieht sich quer durch alle Kapi­tel. Kei­ner der cul­tu­ral turns ist nach Bach­mann-Medick in der Lage, die Vor­herr­schaft der Spra­che voll­stän­dig abzu­lö­sen. Aber jeder turn bricht nach und nach die Domi­nanz des lin­gu­si­tic turn ein klei­nes Stück wei­ter auf und ergänzt ihn so um wich­ti­ge For­schungs­fel­der, die sie bis­lang als ver­nach­läs­sigt emp­fin­det. In die­sem Sin­ne spricht sie den cul­tu­ral turns dann doch zu, in ihrer Gesamt­heit eine Art Para­dig­men­wech­sel der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten selbst zu sein: Sie ver­la­gern die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten hin zu einem pro­zess- und hand­lungs­be­ton­ten Kul­tur­ver­ständ­nis. »Über­lap­pun­gen und Über­set­zun­gen« tre­ten an Stel­le stren­ger Polarisierungen.

Doris Bach­mann-Medick lie­fert mit »Cul­tu­ral Turns« einen sehr dich­ten Über­blick über rele­van­te For­schungs­rich­tun­gen und -fra­gen. Sie bleibt dabei aber nicht stil­ler Beob­ach­ter, son­dern ent­wi­ckelt eige­ne The­sen und gibt Zukunfts­pro­gno­sen. Ihr Buch ist vor allem ein Appell an die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten, sich neu zu pro­fi­lie­ren, um die­se »leben­dig zu hal­ten« und nicht in einer Sack­gas­se enden zu las­sen, indem sie ihre Begriff­lich­kei­ten zu sehr auf­wei­chen. Bach­mann-Medick plä­diert für eine plu­ra­lis­ti­sche Auf­fas­sung der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten und ver­steht sie in Anleh­nung an Hart­mut Böh­me und Klaus Schwer­pe als »Medi­um der Ver­stän­di­gung« zwi­schen den Dis­zi­pli­nen, ins­be­son­de­re zwi­schen den Geis­tes- und Natur­wis­sen­schaf­ten. Daher wer­tet sie neu­ro­bio­lo­gi­sche und trans­kul­tu­rel­le Aspek­te sehr hoch. Ganz in die­sem Sin­ne ver­steht sie die cul­tu­ral turns als Über­set­zungs­pro­zes­se inner­halb der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten, um die­se zu ande­ren Dis­zi­pli­nen anschluss­fä­hig zu machen und Brü­cken zu bauen.

Desi­gner wer­den sich durch stre­cken­wei­se umständ­li­che For­mu­lie­run­gen kämp­fen müs­sen, das wird aber belohnt: Mit einem bes­se­ren Ver­ständ­nis für die For­schungs­fra­gen, die (nicht nur) die Kul­tur­wis­sen­schaf­ten in den letz­ten Jah­ren umge­trie­ben hat. Das hilft, die nun wie­der­auf­kom­men­de Debat­te um die Macht der Bil­der in einen grö­ße­ren Kon­text ein­ord­nen zu können.