Die­se Zir­ku­la­ri­tät kehrt wie­der und wird in eine unheim­li­che Ambi­gui­tät getrie­ben in Teju Coles Roman »Open City«[4], der eben­falls einen Prot­ago­nis­ten auf end­lo­sen Spa­zier­gän­gen, nur hier in New York und Brüs­sel, zeigt, und den man eben­falls als eine Mischung aus Auto­bio­gra­phie, Fik­ti­on, Geschich­te, Erin­ne­rung und sozia­ler und kul­tu­rel­ler Ana­ly­se kenn­zeich­nen kann. Der Ich-Erzäh­ler, der hoch gebil­de­te Intel­lek­tu­el­le und Fla­neur Juli­us, der gera­de sei­ne Fach­arzt­aus­bil­dung zum Psych­ia­ter abschließt, lebt in New York, ist aber wie Cole in Nige­ria auf­ge­wach­sen. Der Autor selbst ist Kind nige­ria­ni­scher Eltern, sei­nem Prot­ago­nis­ten ver­leiht er eine noch etwas kom­pli­zier­te­re Iden­ti­tät, denn Juli­us hat eine deut­sche Mut­ter und eine etwas hel­le­re Haut­far­be als die ande­ren Kin­der in Lagos, mit denen er auf­ge­wach­sen ist. Erst an einer bestimm­ten Stel­le im Text wird deut­lich, dass Juli­us kein Wei­ßer ist. Immer stär­ker wer­den sei­ne Her­kunft, sei­ne Haut­far­be für ihn selbst zum The­ma, sei­ne kul­tu­rel­le, auch sozio-poli­ti­sche Iden­ti­tät wird dis­ku­tiert. Ins­be­son­de­re ein Auf­ent­halt in Brüs­sel führt zu einer hit­zi­gen Debat­te über Migra­ti­on, trans­kul­tu­rel­le Iden­ti­tät, Enga­ge­ment und Gewalt, so dass man das Gefühl haben könn­te, dass hier der Gegen­warts­ro­man eines Autors mit einem Migra­ti­ons­hin­ter­grund genau die­ses The­ma gleich­zei­tig erzäh­le­risch und dis­kur­siv behan­delt und zu einer neu­en Syn­the­se bringt. Wenn nicht von einem bestimm­ten Punkt an die Figur des Juli­us selbst zu einer zwei­fel­haf­ten, abgrün­di­gen, ja unan­ge­neh­men wer­den wür­de und der Leser am Ende zurück­bleibt mit dem ungu­ten Gefühl, voll­stän­dig in die Irre geführt wor­den zu sein. Der ange­hen­de Psych­ia­ter, auch das ein Topos, kennt sich selbst offen­bar am wenigs­ten, aber in die­ser beson­de­ren Aus­prä­gung erhält das Motiv eine neue Bri­sanz. Konn­te man bei Nai­paul am Ende des Romans die viel­leicht trü­ge­ri­sche Gewiss­heit hegen, dass der Prot­ago­nist tat­säch­lich zu einer pre­kä­ren Balan­ce in sei­ner Fremd­heit gelangt ist, vor allem, da wir die­sem Prot­ago­nis­ten ver­trau­en, so wird die­se Balan­ce bei Teju Cole sogar offen­si­ver und poli­ti­scher ein­ge­for­dert oder in Fra­ge gestellt, dafür aber das Ver­trau­en in die Inte­gri­tät der Haupt­fi­gur voll­kom­men erschüt­tert. Die Zir­ku­la­ri­tät führt in den Abgrund zurück. Am Bei­spiel die­ser bei­den Roma­ne möch­te ich zwei­er­lei beto­nen: Hybri­de Tex­te, hybri­de Lite­ra­tur, ins­be­son­de­re der Roman­hy­brid unter­gra­ben die Vor­stel­lung von Iden­ti­tät, die gera­de in den Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten ein wich­ti­ges The­ma bei der Inter­pre­ta­ti­on von Lite­ra­tur war – man den­ke an das Werk von Max Frisch – und noch wei­ter­hin ein Kampf­be­griff in den poli­tisch-ideo­lo­gi­schen Debat­ten der Gegen­wart ist. Der moder­ne Roman ohne­hin, der hybri­de Roman noch deut­li­cher stel­len eben­so ein puris­ti­sches ästhe­ti­sches Kon­zept in Fra­ge, das sich an der Rein­heit und Geschlos­sen­heit der jewei­li­gen Form ori­en­tiert. Bei­des hängt mit­ein­an­der zusam­men, die Vor­stel­lung einer bestimm­ten Iden­ti­tät, der Gedan­ke an eine geschlos­se­ne Form, schließ­lich ste­cken dahin­ter immer auch Macht- und Markt­in­ter­es­sen. Iden­ti­sches lässt sich bes­ser beherr­schen und ver­wal­ten, klar und ein­deu­tig Geform­tes und Erkenn­ba­res bes­ser eti­ket­tie­ren und ver­kau­fen. Form­ge­set­ze reflek­tie­ren immer auch Macht­ver­hält­nis­se. Im Zusam­men­hang mit Teju Cole wird Kwa­me Appiahs Essay über den »Kos­mo­po­lit«[5] genannt, sei­nen klu­gen und schö­nen Begriff für das, was er »Welt­bür­ger­tum« nennt, eine ethi­sche Hal­tung, die von vorn­her­ein nicht mehr auf eine ein­deu­ti­ge und mono-reli­giö­se, mono-lin­gua­le, mono-natio­na­le usw. Iden­ti­tät setzt. In Teju Coles Roman und Kwa­me Appiahs phi­lo­so­phi­schem Essay pral­len gewis­ser­ma­ßen zwei Nar­ra­ti­ve, zwei For­men des Den­kens, Wis­sens, Erken­nens auf­ein­an­der. Der phi­lo­so­phi­sche Essay muss die kom­ple­xe Affekt­struk­tur und die kon­tin­gen­te und zumeist auch schmerz­haf­te Erfah­rungs­welt, die das indi­vi­du­el­le Leben auch prägt, zuguns­ten unse­rer ratio­na­len Ein­sicht, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit, Selbst­kon­trol­le und Ver­bes­se­rungs­fä­hig­keit ver­nach­läs­si­gen. Die Lite­ra­tur kon­zen­triert sich auf den Ein­zel­fall, auf die immer auch rät­sel­haf­te, opa­ke Erfah­rung des Ein­zel­nen, der eben genau­so trieb­ge­steu­ert wie fähig zur Ein­sicht ist, ethi­schen Prin­zi­pi­en fol­gen kann und sie im nächs­ten Augen­blick auf­grund eines star­ken Affek­tes wie­der außer Kraft setzt. Außer­dem sind wir weder durch­ge­hend die glei­che Per­son, noch kön­nen wir uns über­haupt immer an alles erin­nern, was wir gewe­sen sind, wofür ande­re uns aber zurecht ver­ant­wort­lich machen und machen müs­sen. Inner­halb eines gege­be­nen gesell­schaft­li­chen und his­to­ri­schen Erfah­rungs­rau­mes, der in Euro­pa etwa immer weni­ger über gemein­sa­me unmit­tel­bar ver­bind­li­che Wer­te, son­dern vor allem über eine mehr oder weni­ger gut funk­tio­nie­ren­de Staat­lich­keit, Ver­wal­tung und die Wirt­schafts­form zusam­men­ge­hal­ten und defi­niert wird, wird die Ver­mitt­lung von Ord­nungs­be­grif­fen für die eige­ne Erfah­rung zu einer immer drin­gen­de­ren Auf­ga­be. Hier hat mei­ner Ansicht nach Lite­ra­tur – noch mehr als ohne­hin schon – eine Erkennt­nis­funk­ti­on. Ich den­ke, dass so etwas wie eine mehr­fach codier­te Iden­ti­tät ver­mut­lich das eigent­li­che Modell einer gelin­gen­den Zukunft mensch­li­chen Zusam­men­le­bens sein wird. Daher sind es inner­halb der Kul­tur vor allem hybri­de lite­ra­ri­sche For­men, so ist mein Ein­druck, die am ehes­ten in der Lage sind, spür­bar, erfahr­bar, fühl­bar und denk­bar zu machen, wel­che Krei­se man dre­hen, wel­che Ris­se man akzep­tie­ren, wel­chen Dif­fe­ren­zen man ins Auge sehen muss, wel­che zugleich Furcht erre­gen­de und eupho­ri­sie­ren­de Deplat­zie­rung auf einen zukommt. Ich spa­re Hybri­de, die man natür­lich auch zuneh­mend in der Gen­re- und Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur fin­det bzw. Hybri­de zwi­schen Hoch- und Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur, einst­wei­len aus, obwohl sie sicher zu einem Teil eben­so ent­schei­dend, zukunfts­träch­tig und erkennt­nis­för­dernd sein mögen, vor allem gewis­se Dys­to­pien. Einer­seits führt das zu weit und ande­rer­seits kann man die Auf­merk­sam­keit, die man in einem bestimm­ten Seg­ment exem­pla­risch ent­wi­ckelt, dann auch auf ande­re übertragen.

Coles Juli­us bewegt sich ganz selbst­ver­ständ­lich zwi­schen New York, Brüs­sel und Lagos, und doch ist die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit erkauft mit sei­nem Ver­ges­sen. Auch er wird noch Krei­se zu dre­hen haben, Krei­se, die der Roman nicht mehr erzählt und die sei­ne pro­non­cier­te Offen­heit (»Open City«) mit einer etwas bedroh­li­chen Aura fül­len und die Fra­gen über Gewalt und trans­kul­tu­rel­le Iden­ti­tät an die Leser weiterreichen.

War­um ist die­ser Roman ein Hybrid und nicht ein­fach ein Roman? Mei­ne The­se ist, dass Teju Cole ganz bewusst sei­nen schon vom Titel her offen und vom aufs Gan­ze gese­hen vom figu­ren­zen­trier­ten Erzäh­len weg­rü­cken­den Roman – eine Art »Man­hat­tan Trans­fer« der Jetzt­zeit – als flä­chig-essay­is­tisch-hand­lungs­ar­me Refle­xi­ons­pro­sa ange­legt hat. Sie ver­ar­bei­tet den Schock der Anders­ar­tig­keit – das für den Prot­ago­nis­ten selbst wie­der­um zum Ärger­nis wer­den­de Bewusst­sein sei­ner Haut­far­be, bei einem Mahler-Kon­zert in New York etwa ist er der ein­zi­ge Schwar­ze im Kon­zert­saal – drei­fach. Als expli­zit dis­ku­tier­tes The­ma der trans­kul­tu­rel­len Iden­ti­tät, als Auf­lö­sung der Roman­form ins tage­buch­ar­ti­ge Räson­nie­ren und Beob­ach­ten, schließ­lich als eine Art Implo­si­on der noch vor­han­de­nen »Haupt­fi­gur« Juli­us, die gänz­lich unzu­ver­läs­sig und mora­lisch unglaub­wür­dig wird und alles Gesag­te und Gedach­te in einen Stru­del der Frag­wür­dig­keit reißt, aus dem wir nicht mehr ent­las­sen wer­den. Die­ser Stru­del ent­steht eben dort, wo die kul­tu­rel­le und sozia­le, die poli­ti­sche und mensch­li­che Iden­ti­tät in einem expli­zit post­ko­lo­nia­len Kon­text ver­han­delt wird.

Ich muss die Dis­kus­si­on wei­te­rer Bei­spie­le und Vari­an­ten hier abkür­zen zuguns­ten eines Blicks auf die deutsch­spra­chi­ge Gegen­warts­li­te­ra­tur. Das Bemer­kens­wer­te scheint mir, dass man nicht nur bei ihnen, aber beson­ders bei den Autorin­nen und Autoren der soge­nann­ten deutsch­spra­chi­gen Migra­ti­ons­li­te­ra­tur The­men, Struk­tu­ren und Ver­fah­rens­wei­sen ent­de­cken kann, die sich mit dem Begriff der hybri­den Lite­ra­tur – manch­mal sogar direkt im Zusam­men­hang mit der post­ko­lo­nia­len Debat­te und Theo­rie – gut erklä­ren und ver­ste­hen lassen.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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