Essay

»Wenn Du Frieden willst …«

Wie der Ukraine-Krieg das pazifistische Denken verändert

Von Walther Ch. Zimmerli


In den letz­ten Wochen hat der Begriff »Zei­ten­wen­de« sein Schat­ten­da­sein in der eso­te­ri­schen und völ­ki­schen Schmud­del­ecke abge­streift; er ist – nicht zuletzt durch sei­ne Ver­wen­dung durch den deut­schen Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz – zu einer Bezeich­nung für den Abschied von einer regel­ba­sier­ten Welt­ord­nung (Her­fried Mün­k­ler) avan­ciert. Damit ist aller­dings zugleich auch eine Abkehr von der Abkehr gemeint: Der labi­le Frie­dens­zu­stand zwi­schen 1945 und 1989 war durch ein »Gleich­ge­wicht des Schre­ckens« defi­niert, das sei­ner­seits durch ein per­ma­nen­tes – auch ato­ma­res – Wett­rüs­ten auf­recht erhal­ten wur­de. Seit der Auf­he­bung die­ses Gleich­ge­wichts durch den Zer­fall des als »Ost­block« bezeich­ne­ten Impe­ri­ums der um die Sowjet­uni­on geschar­ten Staa­ten des War­schau­er Pak­tes hat­ten wir in den west­li­chen Demo­kra­tien uns in der trü­ge­ri­schen Hoff­nung gewiegt, eine per­ma­nen­te mul­ti­la­te­ra­le Abrüs­tung stel­le eine erfolg­rei­che Abkehr von dem bila­te­ra­len Gleich­ge­wicht des Schre­ckens dar. Schon damals waren aller­dings kri­ti­sche Stim­men laut gewor­den, die davor warn­ten, dass der damit ver­bun­de­ne »Ver­lust des Feind­bil­des« eine desta­bi­li­sie­ren­de Wir­kung haben könn­te, und die zahl­rei­chen bewaff­ne­ten Kon­flik­te seit 1989, auch an den Rän­dern Euro­pas, an denen nach G. Kon­rad »der Wahn­sinn kichert«, hät­ten uns das auch ein­drück­lich bestä­ti­gen kön­nen, wenn wir nur dar­auf gehört hät­ten. Spä­tes­tens jetzt aber erle­ben wir in der besag­ten Zei­ten­wen­de die Abkehr von die­ser Abkehr. Und wir begin­nen zu ahnen, dass der von Putin mit faden­schei­ni­gen »fake news« buch­stäb­lich vom Zaun gebro­che­ne Ukrai­ne­krieg nicht bloss Aus­ge­burt eines para­no­iden natio­na­lis­ti­schen Dik­ta­to­ren­ge­hirns sein, son­dern einer »geo­po­li­ti­schen Neu­ord­nungs­idee« fol­gen könn­te. Vor die­sem Hin­ter­grund taucht hin­ter den eben­so ver­zwei­fel­ten wie berech­tig­ten Mini­mal­for­de­run­gen nach einem Waf­fen­still­stand die ban­ge Fra­ge auf, wie denn das Ver­hält­nis von Krieg und Frie­den nach 2022 zu den­ken ist. Anders: ob eine poli­ti­sche Opti­on, die pri­mär am Frie­den ori­en­tiert ist und die oft als »Pazi­fis­mus« bezeich­net wird, über­haupt noch eine Berech­ti­gung hat.

Von unse­rer Logik in die Irre geführt

Nun geht, wer heu­te einem recht ver­stan­de­nen Pazi­fis­mus das Wort reden will, »einen schwe­ren Gang«, um es mit den Wor­ten des Lands­knechts­füh­rers Georg von Frund­s­berg ange­sichts von Mar­tin Luthers Auf­tritt vor dem Reichs­tag zu Worms 1521 zu sagen. Bei dem Ver­such, den Pazi­fis­mus neu zu den­ken, gilt es näm­lich, zual­ler­erst ein mäch­ti­ges Hin­der­nis zu über­win­den, das unser Den­ken »hin­ter unse­rem Rücken« prägt: unse­re Logik. Gemeint sind damit die impli­zi­ten Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten unse­res Den­kens, und hier vor­dring­lich eine der wich­tigs­ten logi­schen Grund­ope­ra­tio­nen, die der Nega­ti­on. Zwar wis­sen wir theo­re­tisch, dass es einen gewich­ti­gen Unter­schied zwi­schen Kon­tra­dik­ti­on und Kon­t­ra­rei­tät gibt, anders und weni­ger tech­nisch aus­ge­drückt: dass es zu jedem A mehr als nur ein Non-A gibt. Aber in unse­rer impli­zi­ten Logik redu­zie­ren wir intui­tiv das eine auf das ande­re: Was für die logi­schen Wer­te »wahr« und »falsch« gilt, wird auf alles über­tra­gen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, was nicht gut ist, ist böse. Und das geht auch auf der nächs­ten Anwen­dungs­stu­fe der Nega­ti­on wei­ter, so dass die Nega­ti­on der Nega­ti­on – ähn­lich wie in der Mathe­ma­tik Minus mal Minus Plus ergibt – die ers­te Nega­ti­on wie­der auf­hebt. Auf unse­ren Fall ange­wen­det: Die der­zeit erfor­der­li­che Abkehr von der Abkehr des Wett­rüs­tens scheint nur einen Weg zu ken­nen: den Rück­kehr zum Wettrüsten.

Über­wäl­tigt von der Flut grau­en­vol­ler Zer­stö­rungs­bil­der, die jeden­falls uns im Wes­ten täg­lich über­schwem­men, ten­die­ren wir zu die­ser Kon­se­quenz. Aber schon ein ein­fa­cher Gedan­ke zeigt, dass das nicht  zutrifft: Selbst wenn der gegen­wär­ti­ge Kriegs­zu­stand durch einen Waf­fen­still­stand unter­bro­chen und irgend­wann ein­mal sogar durch einen Frie­dens­schluss been­det wür­de, wäre der erreich­te »Frie­den« nicht der­sel­be wie der vor dem rus­si­schen Über­fall auf die Ukrai­ne am 24. Febru­ar 2022. Zu viel ist in der Zwi­schen­zeit gesche­hen, zu viel ist zer­stört, zu vie­le Men­schen sind getö­tet oder ver­trie­ben wor­den, als dass wir uns den Frie­den, um den es hier geht, ein­fach nur als eine Wie­der­her­stel­lung des sta­tus quo ante den­ken könnten.