Essay

Zur Beredsamkeit der Formen

Anmerkungen zu einer Rhetorik des Designs

Von Gert Ueding


1. Das Emp­fun­de­ne wirkt stär­ker als das Gedach­te: die­se Erfah­rung fin­den wir schon in den frü­hen anti­ken Erkennt­nis­leh­ren for­mu­liert. Dass nur Glei­ches durch Glei­ches wahr­ge­nom­men wer­den kann, war die eine Theo­rie (Empe­do­k­les); dass nur Ent­ge­gen­ge­setz­tes das Ent­ge­gen­ge­setz­te emp­fin­den kön­ne, behaup­te­te eine ande­re (Ana­xa­goras). Einig waren sich alle über die Ein­drucks­macht der Sinn­lich­keit; selbst für Pla­ton stand fest, dass Emp­fin­dun­gen die Gedan­ken erwe­cken, sie her­vor­zie­hen. Die Bewer­tun­gen, die sol­che Urtei­le unwei­ger­lich her­vor­ru­fen, wech­seln frei­lich von Fall zu Fall. Für die Sen­sua­lis­ten ver­steht sich die Qua­li­fi­zie­rung von sel­ber. Doch auch Kant betont, dass Begrif­fe, denen wir Rea­li­tät geben wol­len, ohne die Anschau­ung nicht aus­kom­men; Huss­erl wird spä­ter noch ergän­zen, dass »ein­sich­ti­ge Gedan­ken« Sinn­lich­keit benötigen.

Die Rhe­to­rik, die sich in viel enge­rer Ver­knüp­fung als oft behaup­tet, und zwar in Zustim­mung und Wider­spruch, zur Phi­lo­so­phie ent­wi­ckelt hat, mach­te sich von Anfang an das durch­drin­gend Wir­kungs­vol­le des sinn­li­chen Ein­drucks zunut­ze: seit Gor­gi­as und Aris­to­te­les ist die Stär­ke der Sinn­lich­keit die Geburts­stät­te der Stil-Leh­re und der Theo­rie von den emo­tio­na­len Über­zeu­gungs­grün­den, den Gefühls­grün­den. Das geschah durch Über­tra­gung (eines der grund­sätz­li­chen Ver­fah­ren der Rhe­to­rik)[1] der For­men sinn­li­cher Erfah­rung in eine affek­ti­sche Top­ik und in die Figu­ren der Rede.

Mög­lich war das nur, weil die Emp­fin­dun­gen sich nicht allein in For­men zei­gen, die aus dem Augen­blick gebo­ren sind und sich nicht wie­der­ho­len – ja, dies zum wenigs­ten. Viel­mehr äußern sie sich und wir­ken mit der glei­chen Inten­si­tät und Kraft auf einen For­men­schatz hin, der dau­er­haft ist. Denn Fes­tig­keit und Halt­bar­keit müs­sen hin­zu­kom­men. Für sich genom­men, löst das anschau­lich Gege­be­ne einen Wirr­warr unkla­rer Emp­fin­dun­gen aus; erst zur Gestalt ver­fes­tigt, wird die Ein­drucks­stär­ke der Emp­fin­dung gezielt geför­dert, was sich in Angst oder Hoff­nung, Hass oder Lie­be nie­der­schlägt. Dies wirkt also so, wie Quin­ti­li­an, die anti­ke Dis­kus­si­on zusam­men­fas­send, fest­stellt: dass »ein Gemäl­de, ein Werk, das schweigt und immer die glei­che Hal­tung zeigt, so tief in unse­re inners­ten Gefüh­le ein­drin­gen kann, dass es ist, als über­trä­fe es selbst die Macht des gespro­che­nen Wor­tes«.[2] Die sinn­li­che Figur als Wir­kungs­sche­ma tri­um­phiert in der Archi­tek­tur eben­so wie in Gebär­den­spra­che und Phy­sio­gno­mik, in der Wir­kungs­geo­me­trie der Orna­men­te wie in den durch his­to­risch-kul­tu­rel­len Gebrauch auf­ge­la­de­nen Grund­for­men Kreis, Kugel, Drei­eck, Qua­drat usw. Die Kunst bedient sich seit den Anfän­gen der emp­fin­dungs­in­ten­si­ven Wir­kung der sinn­li­chen Figur, ob sie als Tanz­fi­gur, als Totem­bild oder Ritu­al­ge­gen­stand zum Bestand­teil einer les­ba­ren For­men­spra­che gewor­den ist. Nie­mals frei­lich erschöp­fen sich die Inten­tio­nen die­ser For­men­spra­che, sobald sie eine bewusst auf­ge­grif­fe­ne und ver­wen­de­te ist, in der l’art-pour-l’art-haften Affekt­er­re­gung an sich. Die Gebär­den­spra­che des Scha­ma­nen, die Tanz­schrit­te des Medi­zin­man­nes sind per­sua­si­ve For­men – nicht weni­ger als der Hand­kuss, die Umar­mung, der Priestersegen.

Illus­tra­tion: Thilo Rothacker

Illus­tra­tion: Thi­lo Rothacker