2 Wie ist Plu­ra­lis­mus möglich

2.1 Mini­mal­be­din­gun­gen des Pluralismus

In einem Dis­kurs dar­über über­ein­zu­stim­men, dass man nicht über­ein­stimmt, d. h. dass man fähig ist, auch ande­re Posi­tio­nen aus­zu­hal­ten, ver­langt eine gewis­se psy­cho­lo­gi­sche Stär­ke – man muss sich sei­ner eige­nen Posi­ti­on recht sicher sein, um die ande­re Posi­ti­on tole­rie­ren zu kön­nen. Dies ist der Ver­dacht, den der slo­we­ni­sche Phi­lo­soph Sla­vo Žižek geäu­ßert hat: Wie schwach müs­sen die­je­ni­gen Mus­li­me in ihrem Glau­ben sein, wenn sie sich von Kari­ka­tu­ren wie in Char­lie Heb­do der­art pro­vo­zie­ren las­sen.[10] Nun sind Kari­ka­tu­ren noch kei­ne Argu­men­te, son­dern Aus­druck von Wer­tun­gen und Illus­tra­tio­nen von Ein­stel­lun­gen, die meist mit einem gewis­sen Maß an Ver­ach­tung der kari­kier­ten Sache ein­her­ge­hen. Die­ser Ver­ach­tung Aus­druck ver­lei­hen zu kön­nen und zu dür­fen, gehört zum west­li­chen Ver­ständ­nis von Mei­nungs­frei­heit. Frei­lich könn­te es auch ein Akt von Klug­heit sein, auf all­zu gro­be Ver­let­zun­gen zu ver­zich­ten. Denn nur dann kön­nen wir dies von der »Gegen­sei­te« einfordern.

Den ande­ren, also den­je­ni­gen, der Prot­ago­nist einer ande­ren Posi­ti­on ist, von der eige­nen Posi­ti­on zu über­zeu­gen, bedarf wohl eini­ger Rah­men­be­din­gun­gen, die über blo­ße Wer­tung und Illus­tra­ti­on von Ein­stel­lun­gen hin­aus­ge­hen. Wir müs­sen an die­ser Stel­le noch nicht soweit gehen, die viel­dis­ku­tier­ten idea­len Dis­kurs­be­din­gun­gen à la Apel und Haber­mas zu for­dern, aber ein gegen­sei­ti­ges Ver­ste­hen-wol­len der Posi­tio­nen wäre hilf­reich. Ver­ste­hen soll­te hier nicht mit Bil­li­gung ver­wech­selt wer­den. Das bedeu­tet im Extrem­fall: reden und zuhö­ren, nicht schie­ßen und zurück­schie­ßen. Anders aus­ge­drückt: Die Aner­ken­nung der Tat­sa­che, dass es ande­re Wer­te und kul­tur­be­ding­te Hal­tun­gen gibt, ist eine nur not­wen­di­ge aber noch kei­ne hin­rei­chen­de Vor­aus­set­zung für Plu­ra­lis­mus und des­halb noch lan­ge kein Kulturrelativismus.

Als wei­te­re Mini­mal­be­din­gung wäre die Beru­fung auf eine Kon­ven­tio­na­li­tät zu for­dern, die die Inter­ak­ti­on in gewis­ser Wei­se regelt. Selbst das Kriegs­recht basiert auf gewis­sen Mini­mal­kon­ven­tio­nen. Wir wis­sen aber auch, dass gera­de Bür­ger­krie­ge, also Krie­ge auf­grund meh­re­rer Macht­zen­tren auf ein und dem­sel­ben Ter­ri­to­ri­um, die Ten­denz haben, die sitt­li­che Kon­ven­tio­na­li­tät (Lewis 1975) der Betei­lig­ten auf­zu­lö­sen – der Nach­bar beginnt auf den Nach­barn zu schießen.

Plu­ra­lis­mus ermög­licht Dis­sens und lässt ihn bestehen, umge­kehrt erfor­dert bestehen­der Dis­sens einen Plu­ra­lis­mus, damit er nicht mit unak­zep­ta­blen Mit­teln aus­ge­tra­gen wird. In die­sem Wort »unak­zep­ta­bel« steckt schon eine mora­li­sche Bewer­tung. Sie basiert auf der Über­zeu­gung, dass es ein Ver­such wert sein könn­te, die Bedin­gun­gen ver­ant­wort­li­chen Han­delns für die Betrof­fe­nen wenigs­tens zu erhal­ten. Das könn­te durch­aus eine wir­kungs­vol­le, wenn auch mini­ma­le ethi­sche Richt­li­nie sein (Korn­wachs 2000).

Ver­ant­wort­li­ches Han­deln bedeu­tet hier, dass der Han­deln­de sich an sei­nen eige­nen mora­li­schen Vor­stel­lun­gen (d. h. an Prin­zi­pen und Wer­ten) ori­en­tie­ren kann, dass er frei han­deln kann und dass ihm dies bewusst ist. Die Bedin­gun­gen hier­für sind breit dis­ku­tiert wor­den: Der ver­ant­wort­lich Han­deln­de muss Sub­jekt oder Trä­ger der Ver­ant­wor­tung sein kön­nen, was eine gewis­se Auto­no­mie (Frei­heit von …) und Wil­lens­frei­heit (Frei­heit zu …) ein­schließt. Es muss eine Instanz geben, die anruf­bar und sank­ti­ons­fä­hig ist. Absicht, Hand­lung und Fol­gen müs­sen in geeig­ne­ter Wei­se zeit­lich pro­por­tio­niert sein, d. h. weit­rei­chen­de Ent­schei­dun­gen brau­chen mehr Zeit zur ver­ant­wort­li­chen Vor­be­rei­tung als »klei­ne­re« Entscheidungen.

Gutes Han­deln braucht fun­dier­tes Wis­sen. Daher kann man auch for­dern, dass feh­len­des Wis­sen prin­zi­pi­ell und prak­tisch erwerb­bar sein muss. Auch das benö­tigt Zeit. Man kann sich vie­le Situa­tio­nen vor­stel­len, in denen die­se Bedin­gun­gen ver­letzt oder gar nicht her­stell­bar sind (Korn­wachs 2000), wie z. B. in Bür­ger­krie­gen oder bei ter­ro­ris­ti­schen Akten.

Die­se Bedin­gun­gen, ver­ant­wort­li­ches Han­deln zu ermög­li­chen, rei­chen aber noch nicht aus, um Plu­ra­lis­mus zu ermög­li­chen. Dies ist nur dann mög­lich, wenn man ein gewis­ses Prin­zip der Mehr­wer­tig­keit zulässt. Es lässt sich so umschrei­ben: »Das Prin­zip der Mehr­wer­tig­keit erfor­dert die Akzep­tanz ande­rer Wer­te­sys­te­me in ande­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaf­ten. Akzep­tanz bedeu­tet hier nicht, daß man sich die­se Wer­te­sys­te­me selbst zu eigen machen müß­te, also des­sen Akzep­ta­bi­li­tät. Aber die­se Akzep­tanz for­dert doch, zuzu­ge­ste­hen, daß ein sol­ches ande­res Wer­te­sys­tem in sei­ner inne­ren Kon­sis­tenz und Trag­fä­hig­keit zur Beur­tei­lung ethisch rele­van­ter Situa­tio­nen aus der Innen­sicht eben die­ser ande­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaft erfolg­reich her­an­ge­zo­gen wer­den kann.[11] Dann sind auch die in die­sem Kon­text auf­grund die­ses Wer­te­sys­tems gefal­le­nen Ent­schei­dun­gen anzu­er­ken­nen und es muß auch aner­kannt wer­den, daß die­se Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaf­ten sol­che Ent­schei­dun­gen für sich als bin­dend anse­hen wer­den.« (Korn­wachs 2000, S. 63 f.)

Dies müss­te selbst­re­dend auch für die Ver­tre­ter der »ande­ren Sei­te« gel­ten.[12] Zur prak­ti­schen Sei­te die­ser For­de­rung wird am Schluss des Bei­trags eingegangen.

2.2 Das Wech­sel­spiel von Plu­ra­lis­mus und Interessen

Wir sind Welt­bür­ger. Und wir sind vom Ter­ro­ris­mus heim­ge­sucht. Dies ist eine Ent­wick­lung, die im west­li­chen Euro­pa schon geahnt wur­de, als die »Orga­ni­sa­ti­on de l´armée secrè­te« (OAS) Anfang der 60er Jah­re begann, ihren »Krieg« in die Groß­städ­te Frank­reichs zu tra­gen, um die staat­li­che Unab­hän­gig­keit Alge­ri­ens von der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­macht zu verhindern.

Unser Inter­es­se ist es, von Ter­ror ver­schont zu blei­ben. Wir füh­len uns als Unschul­di­ge, Unbe­tei­lig­te. Wir mei­nen, dass es doch Sache der­je­ni­gen ist, die ande­re Inter­es­sen haben, z. B. ihre Wer­bung für einen ande­ren Glau­ben oder ihr Ein­tre­ten für eine gerech­te­re Ver­tei­lung der Güter, Chan­cen und Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten auf die­ser Welt, die­se auf fried­li­che Wei­se zu ver­tre­ten. So soll­ten Unschul­di­ge nicht in einen Kampf hin­ein gezo­gen wer­den, der doch weit weg von uns ist. Wir ver­lan­gen, dass sich die Ver­tre­ter durch­aus berech­tig­ter Inter­es­sen an die inter­na­tio­na­len Geset­ze, an die Men­schen­rech­te, kurz: an die Kul­tur­über­zeu­gun­gen des Wes­tens hal­ten mögen. Denn wir mei­nen spä­tes­tens seit der Auf­klä­rung, unse­re Sitt­lich­keit durch Ver­nunft begrün­den zu können.

  1. [10] vgl. Žižek 2015, S. 14. Dage­gen steht aller­dings, dass wegen des Ver­bots, den Pro­phe­ten abzu­bil­den (vgl. hier­zu auch Paret (1977)), eine kari­kie­ren­de Dar­stel­lung sei­ner Per­son a for­tio­ri als Belei­di­gung und Ver­let­zung reli­giö­ser Gefüh­le auf­ge­fasst wer­den kann. Die Ver­let­zung reli­giö­ser Gefüh­le gilt aber in west­li­chen, d. h. säku­la­ri­sier­ten Staa­ten, als recht­lich hin­nehm­bar, solan­ge sie kei­ne Rech­te Drit­ter tan­giert oder den öffent­li­chen Frie­den nicht stört (z. B. § 166 StGB), da Mei­nungs- und Reli­gi­ons­frei­heit als das vor­ran­gi­ge Gut ange­se­hen wird. In vie­len Staa­ten mit Staats­re­li­gi­on ist es Blas­phe­mie und straf­bar, den Pro­phe­ten abzubilden. 
  2. [11] vgl. die 109. Sure des Korans »Die Ungläu­bi­gen«: »Im Namen Allahs, des All­barm­her­zi­gen. Sprich: ›O Ungläu­bi­ge, ich ver­eh­re nicht das, was ihr ver­ehrt, und ihr ver­ehrt nicht, was ich ver­eh­re und ich wer­de auch nicht das ver­eh­ren, was ihr ver­ehrt und ihr wollt nie das ver­eh­ren, was ich ver­eh­re. Ihr habt Eure Reli­gi­on und ich habe mei­ne.‹« (Koran, Ull­mann, 1959, S. 499). Hen­ning (Koran, Hen­ning, 1991) über­setzt so: »Im Namen Allahs, des Erbar­mers, des Barm­her­zi­gen! Sprich: Oh ihr Ungläu­bi­gen, ich die­ne nicht dem, dem ihr die­net, und ihr seid nicht Die­ner des­sen, dem ich die­ne. Und ich bin nicht Die­ner des­sen, dem ihr dien­tet, Und ihr seid nicht Die­ner des­sen, dem ich die­ne. Euch euer Glau­be und mir mein Glau­be.« An die­sen Über­set­zungs­un­ter­schie­den wird bereits die wei­te Inter­pre­tier­bar­keit ersichtlich. 
  3. [12] Das Pro­blem bei der Aus­ein­an­der­set­zung mit fun­da­men­ta­lis­ti­schen Strö­mun­gen besteht dar­in, dass über deren Grund­la­gen (z. B. Koran oder die Dog­ma­tik einer reli­giö­sen Leh­re) meist gar nicht dis­ku­tiert wer­den darf.