Symposion »Affekte und ihre Wirkung« | Vortrag

Rede mit Gefühl

Über Irrationalismus und Rhetorik

Von Gert Ueding


Im Rah­men des Sym­po­si­ons »Affek­te und ihre Wir­kung«, das an der Fach­hoch­schu­le Kiel am 1. Mai 2015 ver­an­stal­tet wur­de, trug Gert Ueding das unten­ste­hen­de Manu­skript vor.

Sehr geehr­te Damen und Herren,

als die Göt­ter sterb­li­che Wesen aus Erde und Feu­er schu­fen, erhiel­ten Pro­me­theus und Epi­me­theus bekannt­lich den Auf­trag, »sie aus­zu­stat­ten und jeder ein­zel­nen Art ange­mes­se­ne Fähig­kei­ten zu ver­lei­hen«. Epi­me­theus, der die­se Auf­ga­be für sich reser­vier­te, ver­lor den Über­blick: Als er an den Men­schen kam, war schon alles weg­ge­ge­ben, und wenn nicht Pro­me­theus den spek­ta­ku­lä­ren Dieb­stahl des Feu­ers aus der Werk­statt des Hephais­tos und die Über­tra­gung von Weis­heit und Kunst­fer­tig­keit Athe­nas auf die Men­schen began­gen hät­te, wäre von den schwa­chen Zwei­bei­nern bald nicht mehr viel übrig geblie­ben. So aber nutz­ten sie als­bald ihre Fähig­kei­ten zum Woh­nungs­bau, zur Ernäh­rungs­be­schaf­fung und vor allem zur Erfin­dung der Spra­che. Um sich vor den wil­den Tie­ren zu schüt­zen, grün­de­ten sie Städ­te, aber vor der eige­nen Zwie­tracht waren sie dadurch nicht in Sicher­heit gebracht, so dass Zeus ein­schrei­ten muss­te, Her­mes zu ihnen hin­un­ter schick­te und ihnen durch die­sen sei­nen geflü­gel­ten Boten Díke und Aidós über­brin­gen ließ. Wobei Diké die Ein­sicht in die gött­li­che Gerech­tig­keit und das Rechts­we­sen meint, Aidós aber eine Viel­falt von Bedeu­tun­gen umfasst, wie Ehr­furcht, Mit­leid, Scheu, Fein­ge­fühl, Scham oder Rück­sicht und ande­re die­ser Art mehr.

Ich bin sicher, dass Sie trotz der argen Ver­kür­zung in mei­nen Wor­ten die Erzäh­lung wie­der­erkannt haben; sie geis­tert auf ver­schlun­ge­nen Wegen durch die euro­päi­sche Geis­tes­ge­schich­te, und ich habe sie an den Anfang mei­ner Über­le­gun­gen gesetzt, weil sie in bild­li­cher Form unse­rem The­ma sehr nahe rückt. Auch ihr Ursprung ist für uns nicht unwich­tig: Sie stammt von dem gro­ßen Weis­heits­leh­rer und Red­ner Prot­agoras. Pla­ton über­lie­fert sie in dem gleich­na­mi­gen Dia­log, und die For­schung ist sich dar­in einig, dass er sie sei­nem unge­lieb­ten Prot­ago­nis­ten und Kon­kur­ren­ten nicht bloß in den Mund gelegt hat, son­dern dass sie wirk­lich von Prot­agoras stammt.

Nun mögen Sie sich fra­gen, was die­se mytho­lo­gi­sche Kul­tur­ent­ste­hungs­theo­rie in dem Zusam­men­hang mei­nes und unse­res The­mas zu suchen hat! Die Ant­wort führt uns in Rich­tung des anthro­po­lo­gi­schen Gehalts, der in Prot­agoras’ Erzäh­lung vom Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on steckt. Wobei wir nicht ver­ges­sen dür­fen, dass ihr Urhe­ber ein höchst ange­se­he­ner pro­mi­nen­ter Rhe­tor war. Gebo­ren um 480 im etwas abge­le­ge­nen thra­ki­schen Abde­ra, kann­te er doch durch vie­le lan­ge und wei­te Rei­sen die Welt, hat­te die Ver­fas­sung von Thu­rioi, einer grie­chi­schen Stadt­ko­lo­nie im Auf­tra­ge Athens aus­ge­ar­bei­tet, war mit Peri­kles und Euri­pi­des befreun­det, und der ers­te kon­se­quen­te Auf­klä­rer der Welt­ge­schich­te. Er mach­te das mensch­li­che Wis­sen zum Maß­stab allen Wis­sens, trat damit frei­lich den Göt­tern zu nahe, wur­de der Ase­bie ange­klagt, ver­ur­teilt und kam auf dem Wege in die Ver­ban­nung um, sei­ne Wer­ke ver­brann­ten die in vie­lem gar nicht vor­bild­li­chen Athe­ner auf ihrem Marktplatz.

Aus dem weni­gen, was uns über­lie­fert ist, kön­nen wir immer­hin ent­neh­men, dass sei­ne Rhe­to­rik­theo­rie ersicht­lich auf das Gespräch ange­legt war. Er ent­wi­ckel­te die For­men des Streit­ge­sprächs, erfand die Top­ik, begrün­de­te den lite­ra­ri­schen Dia­log und das Lehr­ge­spräch. Es ist also nicht leicht­fer­tig, wenn wir ver­mu­ten, dass auch sein anthro­po­lo­gi­sches Para­dig­ma etwas mit sei­ner rhe­to­ri­schen Pro­fes­si­on und Phi­lo­so­phie zu tun hat. Tat­säch­lich wur­de das auch schon gese­hen, und zwar von Hans Blu­men­berg in sei­nem fol­gen­rei­chen Essay »Anthro­po­lo­gi­sche Annä­he­rung an die Rhe­to­rik«. Dar­in ist eine der Haupt­the­sen, dass aller Rhe­to­rik die Auf­fas­sung vom Men­schen als einem »von der Natur im Stich gelas­se­nen Män­gel­we­sen« zugrun­de liegt. »Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhe­to­rik (…), die ihn mit sei­nem Man­gel an Wahr­heit fer­tig wer­den läßt.«


Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.