Diese Dramaturgie bewahrt uns neben allem anderen, was sie zu leisten vermag, vor jener reduktionistischen Variante der Produktions- und Rezeptionsästhetik, die einzig und allein darauf setzt, dass der Zuschauer gewisse Schlüsselreize bemerkt, denen bestimmte Gefühle entsprechen: Das schleimige Ungeheuer löst unvermeidlich eine berechenbare Empfindung des Ekels aus, dem Schattenwurf der Mörderkralle, die mit einem Messer ausholt, entspricht naturgemäß ein Gefühl der Bedrohung und dem Kiss Off am Ende des Films ein traumseliger Augenblick des Glücks, der dem Zuschauer unweigerlich zu Herzen geht. Die Regisseure müssen jeweils nur die Schlüsselreize kennen und wissen, wie man sie inszeniert, dann kann dieser kurzschlüssigen Ästhetik zufolge nichts mehr schief gehen. Freilich kann man im Rahmen dieser Ästhetik auch keine Erfahrungen machen, die über das Erwartbare hinausgehen. Dem Zuschauer widerfährt im starken, phänomenologischen Sinne nichts, was eine neue, eigene Antwort verlangen würde. Es gibt für ihn weder einen Grund zum Innehalten noch einen Spielraum für Auslegungen, und daher verpufft der Affekt ohne weiteren Effekt.
Eine Film-Poetik, die mehr will, kann sich an die Affektenlehre der aristotelischen Rhetorik und Poetik halten. Die Abhandlung über die Kunst der Rede beginnt mit der Feststellung, dass diese Kunst das korrespondierende Gegenstück zur Dialektik sei, da es in beiden Disziplinen darum gehe, »ein Argument zu prüfen bzw. zu stützen sowie sich zu verteidigen oder anzuklagen«[15]. Aristoteles hebt nach dieser Eröffnung die zentrale Bedeutung der Enthymeme hervor und betont in diesem Zusammenhang, dass man den Richter nicht durch Gefühle wie Zorn, Neid und Mitleid verwirren solle.[16] Als es dann um die Differenzierung von Syllogismen und Enthymemen, also von dialektischen und rhetorischen Schlussverfahren, geht, erklärt der Philosoph, dass es im Grunde genommen ein und dieselbe Fähigkeit sei, »das Wahre und das dem Wahren Ähnliche zu sehen«[17]. Unter dieser Voraussetzung gelangt Aristoteles zu folgender Definition: »Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen«[18], und, so darf man folgern, herzustellen. Hier liegt sowohl der Schnittpunkt von Rhetorik und Poetik als auch der von Ethos und Pathos: Ist die Glaubwürdigkeit des Redners eine Frage seines Charakters, erweist sich die Stimmung des Hörers als ein Effekt, der sich einerseits aus dem Eindruck ergibt, den der Redner auf die Zuhörer macht, sowie andererseits aus den Ausdrücken, die er gebraucht, um sein Publikum zu bestimmten Annahmen, Ansichten und Ableitungen zu bewegen.[19] Das eine, das Image des Redners, hängt mit dem anderen, dem Erfolg der Überredung, eng zusammen.
Allerdings ist dieses andere durchaus vertrackt. Aristoteles nennt nämlich erstens zwei Arten, dem Zuhörer bestimmte Schlussfolgerungen nahezulegen: durch den rhetorischen Syllogismus (Enthymem) und durch die rhetorische Induktion, die auf Beispiele (Paradeigmata) rekurriert.[20] Beide Arten der Überredung setzen auf das Wahrscheinliche, das eine Frage der Darstellung ist, sowie darauf, dass der Zuhörer Schlussfolgerungen anstellt. Mit anderen Worten: die Appellfunktion der Rede geht auf Inferenzen aus, die im status coniecturalis verbleiben. Umso wichtiger sind die Affekte, die gleichsam Beihilfe leisten, weil das Enthymem lediglich wahrscheinlich und daher keineswegs bezwingend oder unabweisbar ist. Diese Funktion wird in der »Rhetorik« mehr angedeutet als ausgeführt, zumal sich Aristoteles im Anschluss an die Erörterung von Enthymem und Paradeigma über andere Dinge auslöst, etwa über die drei Gattungen der Rede und ihre Aufgaben im öffentlichen Diskurs oder über die »Güter«, um die sich dieser Diskurs dreht, allen voran die »Glückseligkeit«.[21] Als Telos aller Politik ist die Glückseligkeit nachhaltig von den Charaktereigenschaften zu unterscheiden, in denen Aristoteles »Komponenten der Tugend« sieht: »Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, großartiger Sinn, Hochherzigkeit, Freigebigkeit, Sanftmut, Einsicht, Weisheit«[22]. Charaktereigenschaften wie diese fallen unter die Kategorie des Ethos, während die Affekte der Kategorie des Pathos subsumiert werden, die auf einer anderen Ebene liegt. Von ihnen können Gerechte wie Ungerechte, Tapfere wie Feige, Maßvolle wie Maßlose, hochherzig wie niedrig Gesinnte, Freigebige wie Knauserige, Sanftmütige wie Jähzornige, Einsichtige wie Uneinsichtige erfasst werden.
- [15] Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Siewecke. München 1993(4), S. 7.
- [16] ebd.
- [17] a. a. O., S. 10.
- [18] a. a. O., S. 12.
- [19] vgl. a. a. O., S. 13.
- [20] vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 14.
- [21] Diese wird bestimmt als »ein mit Tugend verbundener angenehmer Zustand oder Selbstgenügsamkeit bei den Lebensbedürfnissen oder das freudvollste mit Sicherheit verbundene Leben oder ein Überfluß an Besitz und Gesundheit verbunden mit dem Vermögen, derartiges zu bewahren und zu erwerben«. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 27.
- [22] Aristoteles, Rhetorik, S. 47.