Im Gegensatz zu diesem einfachen Spiel mit Zahlen werden in konkreten Technikfeldern zweifellos Elemente nicht wahllos kombiniert. Viele Kombinationen sind in der Praxis überhaupt nicht denkbar, da sie in keiner Weise funktional sind. Doch selbst wenn der Möglichkeitsraum aus Funktionalitätsgründen weiter eingeschränkt wird, bleibt eine unüberschaubare Vielzahl an Kombinationen. Hierzu sollte man sich vergegenwärtigen, dass Technikfelder wie der Maschinenbau, die Verfahrenstechnik oder die Elektrotechnik über einen enormen Umfang an möglichen Elementen verfügen, weit mehr als die gerade angeführten 50. Das blinde Kombinieren alleine scheint daher eine ungenügende Erklärung für die planvolle Hervorbringung neuer Techniken zu sein.
Ich argumentiere hier dafür, dass das technische Kombinationshandwerk ganz zentral durch schon etablierte und bewährte technische Systeme inspiriert und geprägt wird. Solche etablierten Kombinationen finden sich im Bereich des Maschinenbaus etwa in Werken wie 1000 Konstruktionsbeispiele für die Praxis[24] oder, etwas allgemeiner gehalten, in Prinziplösungen zur Konstruktion technischer Produkte[25]. Das Taschenbuch der Verfahrenstechnik[26] führt eine Vielzahl an erfolgreichen Kombinationen etablierter verfahrenstechnischer Grundoperationen an, z. B. zur Herstellung von Schwefelsäure, Polyurethanen und Penicillin oder zur Reinigung von Abwässern. Im Lebensmittel- und Pharmabereich, nehmen die etablierten Kombinationen häufig auch die Form von bewährten Rezepten an. An dieser Stelle möchte ich ein weiteres Beispiel anführen, das keine Technik im eigentlichen Sinne darstellt, trotzdem aber wesentliche Merkmale verschiedener Techniken in sich vereint: das LEGO-Spiel. Hierbei werden ebenfalls einzelne Elemente, die Bausteine, zu Systemen kombiniert. Die in den Bauanleitungen dokumentierten LEGO-Gegenstände stellen in diesem Fall die bewährten Kombinationen der einzelnen Elemente dar; sie lenken und inspirieren damit auch das freie Spiel mit den LEGO-Steinen[27].
Bisher wurde mit diversen Beispielen illustriert, dass die technische Kombinationsarbeit durch etablierte Systembildungen geleitet wird. Diese etablierten Kombinationen aus Elementen möchte ich als Paradigmen bezeichnen[28]. Weiterhin gehe ich davon aus, dass Mengen von Paradigmen technische Stile bilden[29]. Etwas tautologisch lassen sich Paradigmen somit auch als stilprägende technische Systeme interpretieren[30]. Ich verstehe das in dem Sinne, dass technische Paradigmen in einem Feld, z. B. dem Maschinenbau, zu einer Zeit untereinander ein diffuses Netzwerk von Familienähnlichkeiten im Wittgensteinschen Sinne aufweisen[31].
Stellt sich noch die Frage, wie das für eine gegebene Problemstellung geeignete Paradigma innerhalb eines Technikstils gefunden wird? Hierfür möchte ich hypothetisch zwei Mechanismen formulieren. Im Idealfall bzw. in der Selbstwahrnehmung vieler Techniker orientieren sich neue Kreationen sicher primär an funktional analogen Systemen. Technische Systeme können als analog gelten, wenn sie in allen relevanten Aspekten die gleichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, also die gleichen Kausalstrukturen aufweisen.[32] In diesem Sinne übertragen Techniker Funktionsweisen von einem Ursprungssystem auf ein neues, zu kreierendes Zielsystem. Der Analogieschluss ist jedoch äußerst schwierig präzise zu fassen[33] und lässt sich häufig erst retrospektiv rekonstruieren, denn es ist meist nicht klar, welches die »relevanten Aspekte« sind, in denen Ursprungs- und Zielsystem übereinstimmen sollen.
- [24] Krahn, Heinrich; Eh, Dieter; Lauterbach, Thomas: 1000 Konstruktionsbeispiele für die Praxis. München 2010.
- [25] Koller, Rudolf; Kastrup, Norbert: Prinziplösungen zur Konstruktion technischer Produkte. Berlin 1998.
- [26] Schwister, Karl (Hg.): Taschenbuch der Verfahrenstechnik. München 2010.
- [27] vgl. dazu auch Cook, Roy T.; Bacharach, Sondra (Hg.): LEGO and Philosophy. Hoboken 2017.
- [28] Der Paradigmen-Begriff bezieht sich auf die klassische Arbeit Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 2012. Hierbei mag befremdlich sein, dass nach der vorliegenden Analyse scheinbar eine große Anzahl an Paradigmen gleichzeitig in jedem Technikfeld wirksam ist und Paradigmen zudem sehr partikulare Problemlösungen bezeichnen. In Kuhns Bild der Naturwissenschaften dominiert dagegen je nur ein Paradigma; zudem wird der Paradigmenbegriff primär zur Beschreibung von Gesamtkonstellationen in der Forschung herangezogen. Allerdings wurde schon früh darauf hingewiesen, dass Kuhn den Paradigmenbegriff selbst vielseitig verwendet; vgl. Masterman, Margaret: The Nature of a Paradigm. In: Lakatos, Imre; Musgrave, Alan (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. London 1972. S. 59—89. So bezeichnet Kuhn auch typische Problemlösungen, wie sie in Lehrbüchern dokumentiert sind und die gängige Praxis anleiten, als Paradigmen. In diesem Sinne wird hier der Begriff verwendet. Einen ähnlich partikularen Paradigmen-Begriff in Bezug auf die Technik vertritt auch Petroski, Henry: Design Paradigms. Cambridge 1994. Allerdings bezeichnet Petroski, seinem generellen Blick auf die Technikwissenschaften entsprechend, einzelne lehrreiche Schadensfälle als Paradigmen, die durch ihr aufmerksames Studium zukünftig zu vermeiden sind. Ich möchte zuletzt darauf hinweisen, dass auch eine umfassendere und somit klassischere Verwendung des Paradigmenbegriffs in den Technikwissenschaften sinnvoll sein kann; vgl. Kuhn, Michael; Pietsch Wolfgang; Briesen, Heiko (2017): Clarifying Thoughts About the Clarification of Liquids – Filtration and the Philosophy of Science. In: Chemie Ingenieur Technik, 89 (9), S. 1126—1132. Ähnlich wie Systeme lassen sich auch Paradigmen auf verschiedenen Abstraktionsniveaus identifizieren.
- [29] Ein ähnlicher Stilbegriff wird verwendet in Glotzbach, Ulrich: Technikstil und Gestalt. Hamburg 2006. Vgl. z. B. S. 79, 95, 120. Allerdings sind bei Glotzbach Stile – wie der Titel der Arbeit bereits suggeriert – eng mit Gestalten verknüpft. Gestalten wiederum können in etwa als umfassende mentale Antizipationen von technischen Systemen verstanden werden; vgl. z. B. S. 7, 97, 102. Glotzbach verweist explizit auf die synästhetischen Qualitäten von Gestalten und betont deren »durchfühlte Bewegtheit, sinnliche Materialität, Sozialität« (S. 7). Verglichen mit Glotzbach wird mit der hier eingeführten Element-System-Unterscheidung also eine nüchternere Deutung vertreten.
- [30] Ähnlich zu den hier eingeführten Begriffen von Element und Paradigma spricht Hubig von einer kombinatorischen und einer topischen Tradition, was das Nachdenken über menschliche und speziell auch technische Kreativität angeht. Die kombinatorische Tradition entspricht in etwa den Überlegungen aus »Baustein 1«, wo Technik als aufgebaut aus Elementen vorgestellt wurde. Hubigs topoi dagegen nehmen eher die Bedeutung eines »Lösungsraumes« oder »Suchraumes« an und beinhalten ebenfalls allgemeine »methodisch(e) Strategien«. Diese topoi umfassen damit mehr als ein Technikstil im Verständnis der vorliegenden Arbeit. Vgl. Hubig, Christoph: Das Neue Schaffen. Zur Ideengeschichte der Kreativität. In: Kornwachs, Klaus (Hg.): Bedingungen und Triebkräfte technologischer Innovationen. Stuttgart 2007. S. 293—306.
- [31] Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 2003. Dort wird dieser Zusammenhang in Abschnitt 66 am Beispiel des Spiels erläutert und in Abschnitt 67 dann auch als »Familienähnlichkeiten« bezeichnet (S. 56—58).
- [32] Vgl. Pietsch, Wolfgang (2014): The Structure of Causal Evidence Based on Eliminative Induction. In: P. Illari and F. Russo (Hg.), Special Issue on Evidence and Causality in the Sciences, Topoi 33 (2), S. 421—435. Außerdem: Pietsch, Wolfgang (2017): A Causal Approach to Analogy. Preprint, online verfügbar unter: http://philsci-archive.pitt.edu/12998/, Stand 6.2.2019
- [33] vgl. z. B. Bartha, Paul: Analogy and Analogical Reasoning. In: Zalta, Edward N.: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Spring 2019 Edition. Online verfügbar unter: https://plato.stanford.edu/archives/spr2019/entries/reasoning-analogy/, Stand 6.2.2019.