Quin­ti­li­an hat­te das nicht anders gese­hen und die Fra­ge nach dem Nach­ah­mungs­wür­di­gen aus Goe­thi­schem Geist (wenn Sie mir die­sen Ana­chro­nis­mus erlau­ben) ent­schie­den. Wächst doch der Mensch mit sei­nen höhern Zwe­cken, so dass nur die Bes­ten es sein dür­fen, denen er nach­ei­fert. Mit die­ser Über­le­gung war die Idee des Kanon gebo­ren, jeden­falls sei­nem dif­fe­ren­zier­ten Begrif­fe nach und wie er die Bil­dungs­ge­schich­te Euro­pas domi­nie­ren soll­te. Vor­for­men gab es natür­lich längst, eine crea­tio es nihi­lo, ein Ent­ste­hen aus dem Nichts her­aus, moch­te in phi­lo­so­phi­scher Spe­ku­la­ti­on noch durch­ge­hen, dem auf­ge­klär­ten Geist rhe­to­ri­scher Ratio­na­li­tät hät­te das krass widersprochen.

Ich will gleich ein­ge­ste­hen, dass mir die vie­ler­orts modi­sche und ver­ächt­li­che Sus­pen­die­rung des Bil­dungs­ka­nons nicht gefällt. Sie ist nicht nur geschichts­ver­ges­sen, son­dern ober­fläch­lich und res­sen­ti­ment­be­haf­tet. Denn was für die Imi­ta­tio gilt, gilt auch für ihn: Es kommt auf den Gebrauch an. Man kann ihn als star­res, musea­les Gebil­de und Erbau­ungs­tem­pel oder als Labo­ra­to­ri­um des Mög­li­chen und Übungs­feld prak­ti­scher red­ne­ri­scher, auch lite­ra­ri­scher Tätig­keit nut­zen. Er ist zudem Aus­weis einer Sprach­kul­tur, der sich die anti­ken Red­ner und Phi­lo­so­phen glei­cher­ma­ßen wid­me­ten – in dem Bewußt­sein, dass dem Men­schen als zoon logon echon, als sprach­lich begab­tes Wesen, nichts wesent­li­cher ist als eben die­se sei­ne Spra­che. Wobei sie ein so kom­pli­zier­tes, in alle Lebens­be­rei­che ver­äs­tel­tes Sys­tem bil­det, wie es kein Ver­gleich­ba­res gibt, in dem also »nicht ein­fach jeder her­um­fum­meln darf, der (nicht mal) die Gebrauchs­an­wei­sung kennt.«

Die Ent­ste­hungs­ge­schich­te mag uns über das umstrit­te­ne Nor­men­pro­gramm etwas genau­er in Kennt­nis set­zen. Als Kanon bezeich­ne­ten die Grie­chen zunächst nur Maß­ru­te oder Waag­bal­ken, ein Norm-Maß also, das im Tem­pel nie­der­ge­legt als Richt­schnur für das hand­werk­li­che Instru­ment dien­te und bei Kon­flik­ten zu Rate gezo­gen wur­de. Doch bald schon wur­de der Begriff über­tra­gen auf Norm und Regel im all­ge­mei­nen und bedeu­te­te schließ­lich auch einen Tra­di­ti­ons­be­stand, der das Gül­ti­ge aus dem Ver­gäng­li­chen her­aus­hob und der Zukunft zum stre­ben­den Bemü­hen über­mit­tel­te. »Der Kanon«, so fass­te zuletzt noch der wohl größ­te Ken­ner der euro­päi­schen Bil­dungs­ge­schich­te, Man­fred Fuhr­mann, sei­ne wich­tigs­ten Funk­tio­nen zusam­men, der Kanon »sucht zwi­schen der unüber­schau­ba­ren Viel­falt der Kul­tur und den ein­zel­nen, die an ihr teil­ha­ben, zu ver­mit­teln: er redu­ziert die Poten­zia­li­tät auf Aktua­li­tät, auf eine, für das ein­zel­ne Sub­jekt über­schau­ba­re Auswahl«. 

Kein Wun­der, dass die Rhe­to­rik, die sich der sprach­li­chen und red­ne­ri­schen Aus­bil­dung des Men­schen von sei­nem 1. Lebens­jahr an wid­met (Quin­ti­li­an for­dert, daß die Amme ein gutes Latein spre­chen müs­se), daß die Rhe­to­rik auch den lite­ra­ri­schen Kanon erfun­den hat. Nach der grie­chi­schen Best­sel­ler­lis­te der 10 atti­schen Red­ner, unter ihnen Iso­kra­tes und Demo­sthe­nes natür­lich (auch eine Lis­te der 9 vor­bild­li­chen Lyri­ker gab es), kurz, nach die­sen Vor­läu­fern war es zunächst Cice­ro, der in einem kur­zen his­to­ri­schen Über­blick die mus­ter­haf­ten Rhe­to­ren wür­dig­te. Erst Quin­ti­li­an aber hat die­se Lis­te in dem berühm­ten und lan­ge Zeit ein­zig bekannt geblie­be­nen 10. Buch sei­ner »Insti­tu­tio ora­to­ria«, »Über die Aus­bil­dung des Red­ners«, zu einer Lite­ra­tur­ge­schich­te avant la lett­re erweitert.
Nicht zum Selbst­zweck müßi­ger Lek­tü­re, ver­steht sich. Urteils­kraft und sprach­li­ches Über­zeu­gungs­ver­mö­gen »errei­chen wir aber dadurch«, begrün­de­te er sei­ne Absicht, »daß wir das bes­te lesen und anhö­ren«, um es als­dann nach­ah­men zu kön­nen. Denn, so die iro­ni­sche Poin­te, »beim Her­cu­les, ganz zwangs­läu­fig sind wir den Guten ent­we­der ähn­lich oder unähn­lich. Ähn­lich­keit aber lie­fert sel­ten die Natur, häu­fig jedoch die Nach­ah­mung.« Sie erstreckt sich auch hier auf die Sache sel­ber, ihre Per­spek­ti­vie­rung, argu­men­ta­ti­ve Bear­bei­tung und Struk­tu­rie­rung, schließ­lich auf die sprach­li­che For­mu­lie­rung. In die­sen Kon­text fällt übri­gens ein Gleich­nis, das uns an unver­mu­te­ter Stel­le wie­der­be­geg­net: »Wie wir die Spei­sen zer­kaut und fast flüs­sig her­un­ter­schlu­cken, damit sie leich­ter ver­daut wer­den, so soll unse­re Lek­tü­re nicht roh, son­dern durch vie­les Wie­der­ho­len mür­be und gleich­sam zer­klei­nert unse­rem Gedächt­nis und Vor­rat an Mus­tern (zur Nach­ah­mung) ein­ver­leibt wer­den.« Das ist eine ande­re Lek­tü­re­pra­xis als die unse­re und setzt auf Inten­si­tät, nicht Exten­si­tät, und blieb bis ins 18., 19. Jahr­hun­dert erhal­ten. Der gro­ße roman­ti­sche Kri­ti­ker Fried­rich Schle­gel wird das Bild auf­grei­fen und kri­ti­sches Lesen als eine Art »Wie­der­käu­en« beschreiben.

Doch noch ein­mal zurück zum Kanon­kon­zept Quin­ti­li­ans. Die­se Bes­ten­lis­te, der in spä­te­ren Zei­ten, wie gegen Ende des 18. Jahr­hun­derts durch die hyper­tro­phe Genie­be­we­gung der Wert abge­spro­chen wur­de (den aller­dings die Klin­ger, Lenz oder Goe­the sich vor­her durch­aus ein­ver­leibt hat­ten), und der heu­te durch die tri­via­len Exem­pel der All­tags­re­de weit­ge­hend ersetzt ist – die­ser Kanon war als offe­nes Sys­tem ange­legt und wur­de den Erfor­der­nis­sen rhe­to­ri­scher Theo­rie und Pra­xis gemäß, ver­än­dert und wei­ter­ge­schrie­ben. Wel­che Macht ihm zuge­traut wur­de, hat nie­mand kür­zer und prä­gnan­ter in eine Sen­tenz gebracht als Johann Joa­chim Win­ckel­mann: »Der ein­zi­ge Weg für uns, groß, ja, wenn es mög­lich ist, unnach­ahm­lich zu wer­den, ist die Nach­ah­mung der Alten.«

Doch das ist nicht alles. Der Kanon ver­zeich­ne­te zwar in ers­ter Linie Wer­ke der Bered­sam­keit, Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie, aber bereits Pla­ton ernennt in sei­ner »Poli­te­ia« Arith­me­tik, Geo­me­trie, Astro­no­mie und Musik zu Bil­dungs­fä­chern, die den Geist für die Ana­mne­sis, für die wah­re Erkennt­nis frei machen. Im Qua­dri­vi­um der sep­tem artes libe­ra­les, der sie­ben frei­en Küns­te, fan­den sie ihren kano­ni­schen Platz und steu­er­ten ihren Teil zum Haus­halt der Mei­nungs- und Bil­dungs­nor­men der Gesell­schaft bei.
In sei­ner Gesamt­heit trans­por­tier­te der Kanon, so kön­nen wir zusam­men­fas­sen, die über­zeu­gungs­kräf­ti­gen sowohl all­ge­mei­nen wie kon­kre­ten Gesichts­punk­te, die grie­chisch »topoi«, latei­nisch »loci« genannt wur­den. Sie sind die »Para­me­ter für das Sprach- und Denk­ver­hal­ten« (Born­scheu­er) der mei­nungs­bil­den­den kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Schich­ten. Um ihre Bedeu­tung für unser The­ma und ihre beherr­schen­de Rol­le in der Geschich­te, im Pro­zess der Kul­tur und Zivi­li­sa­ti­on begreif­lich zu machen, muß ich noch ein­mal etwas ausholen.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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