Bleibt zu fra­gen, was denn die­se »Natur« ist, die in der Genie­äs­the­tik an die Stel­le klas­si­scher Mus­ter rücken soll­te? Ihre Vor­stel­lung nährt sich aus Ele­men­ten anti­ker Spe­ku­la­ti­on von einer sub­jekt­haf­ten Natur, auch einer natu­ra natur­ans, deren Wesen Kraft und Ener­gie ist. Ideen, die durch die Epo­chen geis­tern, und mit mytho­lo­gi­schen Zuta­ten ver­setzt sind, wie uns Goe­thes »Faust« so schön belehrt. Übri­gens ist die Anti­ke selbst in die­ser Gene­ra­ti­on nie ganz abge­schrie­ben: Pro­me­theus ist ihr ers­ter Hei­li­ger im neu­en Kalen­der. Die­se Natur ist aber eben­so eine Kon­struk­ti­on aus dem Kopf her­aus wie ihr mecha­nis­ti­sches Pen­dant, das ihr bald fol­gen wird. Das Genie sel­ber tritt uns, genau gemus­tert, als eine Kunst­fi­gur ent­ge­gen. Deren voll­kom­me­ne Ver­wirk­li­chung kann man am Schwei­zer Autor Chris­toph Kauf­mann stu­die­ren, einem vor­zei­ti­gen Pop­ar­tis­ten, der eine Art Regel­werk für Genies geschrie­ben hat, von Hof zu Hof zog, eine bun­te Show abzog, sich unge­bär­dig, unver­schämt und skan­da­lös, eben Genie­zeit-gemäß benahm, und der­art sei­nen Unter­halt verdiente.

Im 19. Jahr­hun­dert waren sol­che Aus­wüch­se bald ver­ges­sen, auch der kürz­lich noch wüst beschimpf­te Kanon kam zu neu­en Ehren. Fried­rich Schle­gel ent­deckt erneut die mus­ter­ge­ben­de Poe­sie der Grie­chen, Höl­der­lin macht aus sei­ner Bewun­de­rung für sie gleich­falls kein Hehl und sogar ein revo­lu­tio­nä­rer Autor wie Karl Marx erklärt die »grie­chi­sche Kunst und Epos«, obwohl an längst über­wun­de­ne öko­no­mi­sche Ent­wick­lungs­for­men geknüpft, den­noch »in gewis­ser Bezie­hung als Norm und uner­reich­ba­re Mus­ter« – und das in einem Buch, das sich die Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie zum Ziel gesetzt hat.

Den­noch dür­fen wir nicht in den Feh­ler ver­fal­len zu glau­ben, alles sei nun wie­der beim Alten, Gewohn­ten. Das Imi­ta­tio-Kon­zept in der Rhe­to­rik, sehr viel mehr aber in der Lite­ra­tur, ändert sich, dabei fal­len, soweit ich sehe, zwei Haupt­ten­den­zen auf, die bei­des Ver­lust­re­ak­tio­nen sind. Höl­der­lins viel­zi­tier­ter Zwei­fels­ruf »War­um Dich­ter in dürf­ti­ger Zeit?« reagiert auf den Ver­lust an Sicher­heit, die der Dich­ter in einer Stän­de­ge­sell­schaft frag­los sei­nen Besitz nen­nen konn­te. Er hat ihn aus­ge­tauscht gegen Unab­hän­gig­keit, aber auch gegen ste­ti­ge öko­no­mi­sche und sozia­le Gefähr­dung. Man benö­tigt ihn nicht mehr zur Lebens­meis­te­rung, dafür haben sich längst ande­re Instan­zen ein­ge­rich­tet. Ob Wil­helm Meis­ter heu­te noch zum Thea­ter gin­ge? Wohl eher zum The­ra­peu­ten, wenn er über­haupt so komi­sche Vor­stel­lun­gen ent­wi­ckel­te, wie sein Vorgänger.

Und der Autor? Braucht er noch einen Kanon in die­ser sei­ner so arg beschränk­ten Arbeits­welt? Nicht mehr im Sin­ne einer sys­te­ma­ti­schen, in sich ver­schränk­ten, zusam­men­stim­men­den Bezugs­grö­ße, son­dern als belie­big ver­füg­ba­res Reser­voir von Spiel­for­men, die von ihren reli­giö­sen oder ideo­lo­gi­schen Bin­dun­gen gelöst und mit neu­em Sinn auf­zu­la­den sind. Ein Sinn aber, der auf All­ge­mein­heit und objek­ti­ve Gel­tung von vorn­her­ein ver­zich­tet. Statt­des­sen wird sich der Autor in die­sen ent­leer­ten For­men sel­ber zum Gegen­stand, wan­dert als Odys­seus durch die moder­ne Stadt oder ver­liert sich ver­zwei­felt im Schloss der Welt. 

Die zwei­te Ten­denz möch­te ich an einem spek­ta­ku­lä­ren Ereig­nis aus den Anfangs­jah­ren der Ent­wick­lung illus­trie­ren, die ich jetzt ver­fol­ge. Am 10. Novem­ber 1793 fei­ert das revo­lu­tio­nä­re Frank­reich (und mit ihm sei­ne Sym­pa­thi­san­ten in ganz Euro­pa) das Fest der Ver­nunft. Eigent­lich bedeut­sam ist der Ort die­ser Fei­er, näm­lich eine Kir­che, oder bes­ser die Kir­che in Paris, näm­lich Not­re Dame. Was ist dar­an für uns wich­tig? Weni­ger die Kos­tü­mie­rung, das anti­ke Geprä­ge des Ablaufs, als die eben bespro­che­ne Sinn­ent­lee­rung, deren Funk­ti­on hier ande­rer Art ist. In Gestalt ästhe­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­on holt sich die Gesell­schaft zurück, was sie vor­her zu die­sem Zweck ent­fernt hat.