Es war ein epo­cha­ler Fort­schritt schon des anti­ken Den­kens, die Gren­zen evi­den­ter, wah­rer Erkennt­nis aus­ge­mes­sen zu haben und zu wis­sen, dass weder Phi­lo­so­phie noch Wis­sen­schaft, als wie exakt sie sich sel­ber auch defi­nie­ren moch­te, ewi­ge Wahr­hei­ten oder end­gül­ti­ge Gewiss­hei­ten ver­schaf­fen kön­nen. Rhe­to­ren wie Prot­agoras oder Gor­gi­as, aber auch Hera­klit haben sich damit nicht zufrie­den gege­ben; zu drin­gend ver­lang­ten Ent­schei­dungs- und Hand­lungs­zwang, wor­un­ter mensch­li­ches Leben unauf­schieb­bar täg­lich steht, einen Aus­weg aus dem Dilem­ma, nicht wahr­haft wis­sen zu kön­nen, was rich­tig und was falsch ist. Wel­che Lösun­gen genau in die­ser Früh­zeit erprobt wur­den, kann man ange­sichts der dürf­ti­gen Quel­len­la­ge und der durch die pla­to­ni­sche Meta­phy­sik zuge­deck­ten skep­ti­schen Gedan­ken­welt nur mehr erra­ten als rekon­stru­ie­ren. Jeden­falls (ich kür­ze hier sehr ab) führ­ten die ent­spre­chen­den Über­le­gun­gen über Pla­ton hin­aus zu den erkennt­nis­kri­ti­schen Schrif­ten sei­nes Schü­lers Aris­to­te­les, für uns hier ein­schlä­gig sei­ne »Rhe­to­rik« und sei­ne »Top­ik«.

Sei­ne Auf­ga­be hat er klar aus­ge­spro­chen, näm­lich »eine Metho­de zu fin­den, nach der wir über jedes auf­ge­stell­te Pro­blem aus wahr­schein­li­chen Sät­zen (denn wah­re Sät­ze besit­zen wir in aller Regel nicht) Schlüs­se bil­den kön­nen und, wenn wir selbst Rede ste­hen sol­len, in kei­ne Wider­sprü­che gera­ten«. Die­se »wahr­schein­li­chen Sät­ze«, die all­ge­mein gel­ten, weil sie auf dem »con­sen­sus« aller oder jeden­falls der meis­ten beru­hen, hei­ßen »endo­xa«; in ihnen sind auch die »topoi«, die Bau­stei­ne des rhe­to­ri­schen Schluss­ver­fah­rens ver­an­kert, damit ihre Glaub­wür­dig­keit. Das sind zum Bei­spiel die topoi über »Poten­zia­li­tät und ihr Gegen­teil, ob etwas gesche­hen sei oder nicht, ob es sein wird oder nicht, sowie über Grö­ße und Klein­heit von Dingen«.

Was er damit meint, hat Aris­to­te­les breit aus­ge­führt und an Bei­spie­len illus­triert. »Fer­ner gilt über­haupt das Schwe­re­re mehr als das Leich­te­re, denn es ist sel­te­ner. Ande­rer­seits gilt das Leich­te­re mehr als das Schwe­re­re, es ver­hält sich näm­lich so, wie wir es wün­schen.« Jeder topos, heißt das, kann Prä­mis­se ver­schie­de­ner, sogar ent­ge­gen­ge­setz­ter Schlüs­se sein, je nach dem Beweis­zu­sam­men­hang, den er im Kon­text aktua­li­sie­ren soll. Die­ses topi­sche Ver­fah­ren ist zustän­dig, wenn das in Fra­ge ste­hen­de Pro­blem nicht durch Mes­sen, Wägen oder mathe­ma­ti­sche Ope­ra­ti­on zu lösen ist, also in allen Fra­gen, über die man, wie die Redens­art lau­tet, geteil­ter Mei­nung sein kann.

Mit die­sen knap­pen Hin­wei­sen mag es genü­gen, denn Sie wer­den sich mit Recht fra­gen, was denn dies alles mit unse­rem The­ma zu tun hat! Nun, auch die Top­ik ist ein bedeu­ten­der Gegen­stand der »imi­ta­tio« durch die Jahr­hun­der­te geblie­ben. Für uns wich­tig sind dabei zwei Punk­te. Die­se topoi genann­ten All­ge­mein­über­zeu­gun­gen sind von unter­schied­li­cher Kon­kret­heit. Der Topos aus dem »Mehr oder Weni­ger« – zum Bei­spiel im Argu­ment: »wenn es dafür kein Gesetz gibt, wie soll ich dann wis­sen, in die­sem beson­de­ren Fall falsch gehan­delt zu haben?« – die­ser Topos ist abs­trakt und uni­ver­sal ver­wend­bar, spielt auch in der All­tags­re­de eine gro­ße Rol­le. In den kon­kre­ten Topoi haben sich die all­ge­mei­nen Gesichts­punk­te zu Merk­sät­zen ver­fes­tigt, die oft zu Sprich­wör­tern wur­den. Für unse­ren Zusam­men­hang etwa zum Sprich­wort »wer ein­mal lügt, dem glaubt man nicht«. Je kon­kre­ter der Topos, umso gerin­ger sei­ne Ein­satz­mög­lich­kei­ten, was aber die lang­an­hal­ten­de Wir­kung nicht beein­träch­ti­gen muß. Ernst Robert Cur­ti­us hat mit ihnen das Modell einer lite­ra­ri­schen Top­ik gewon­nen und gezeigt, wie etwa die Bestand­tei­le des locus amoe­nus, des lieb­lich schö­nen Land­schafts-Ensem­bles oder die Gestalt des deus arti­fex im Pro­zeß der schöp­fe­ri­schen Nach­ah­mung durch die Geschich­te wandern.

Für die Rhe­to­rik ent­schei­det sich die Bedeu­tung eines Topos im Rede­ge­brauch, da muß er sich bewäh­ren. Solan­ge sei­ne Norm unan­ge­foch­ten ist – in der west­li­chen Welt gilt das etwa für den Kata­log der Men­schen­rech­te –, genügt die ein­leuch­ten­de Refe­renz. Umge­ar­bei­tet oder sus­pen­diert muß er wer­den, wenn sei­ne Gel­tung stark ein­ge­schränkt ist. Jedes­mal aber ver­langt die Adap­ti­on an den kon­kre­ten Fall »argu­men­ta­ti­ve Phan­ta­sie«. Um es am lite­ra­ri­schen Bei­spiel zu erläu­tern, das ich eben zitier­te: Der locus amoe­nus in einer anti­ken Hir­ten­dich­tung ist ein ande­rer als der locus amoe­nus in Coo­pers »Wald­läu­fer«, obwohl auch dar­in alle bekann­ten Bestand­tei­le wie­der­keh­ren. Nicht anders in einer Debat­te über die Gleich­be­hand­lung von Mann und Frau im Arbeits­pro­zess: Inwie­fern dar­in Nor­men eines Men­schen­rechts eine Rol­le spie­len, ist von jedem Red­ner zunächst plau­si­bel zu machen, bevor die Argu­men­ta­ti­on ein­leuch­ten kann. Immer kommt es dar­auf an, die in der Top­ik über­lie­fer­ten, im Kanon der »auc­to­res« auf­ge­nom­me­nen, oft in sinn­li­che Anschau­ung über­setz­ten All­ge­mein­über­zeu­gun­gen auf den neu­en Kon­text hin durch­zu­füh­ren, wie ein The­ma in der Musik »durch­ge­führt« wird. Dazu noch ein­mal Quin­ti­li­an: »Denn wer sich bemüht, vor­ne zu sein, dem wird es viel­leicht gelin­gen, auf glei­cher Höhe zu sein, wenn auch nicht (immer) zu über­ho­len. Nie­mand aber ver­mag, mit dem auf glei­cher Höhe zu sein, in des­sen Spu­ren er stets glaubt tre­ten zu müs­sen; denn wer folgt, muß immer zurückbleiben.«

Kein Zwei­fel, wenn wir von den Pra­xis­er­for­der­nis­sen aus auf den Kanon bli­cken, auf die­sen Schatz­be­hal­ter plau­si­bler Prä­mis­sen, exem­pla­ri­scher Fäl­le und Stof­fe, so kann man von ste­ri­ler Erstar­rung nur in den Fäl­len spre­chen, in denen er sich vom Gebrauch gelöst hat und unwirk­sam gewor­den ist. Im übri­gen aber ergän­zen sich die Deka­no­ni­sie­rung abge­gol­te­ner und die Kano­ni­sie­rung neu­er Autoren im leben­di­gen Wech­sel­spiel. Sei­ne Wei­ter­ent­wick­lung, die jeder neue Pra­xis­fall schließ­lich im Inter­es­se der Glaub­wür­dig­keit ver­langt, fußt auf einer Ver­stän­di­gung, die über die Gren­zen von Par­tei­en und Bekennt­nis­sen hin­aus­geht. Wal­ter Jens hat ein­mal die­se gemein­schafts­stif­ten­de Kraft des Kanon gera­de an einem beson­ders heik­len Bei­spiel bekräf­tigt: »Ein schein­bar befremd­li­cher, in Wahr­heit plau­si­bler Gedan­ke: das Pan­the­on des 19. Jahr­hun­derts, bevöl­kert von Män­nern, zwi­schen denen es im Raum der Poli­tik kei­ne Gemein­sam­keit gab, (…) deren Leh­ren sich dia­me­tral unter­schie­den, und alle hat­ten genau die glei­che Bil­dung genos­sen, alle die glei­chen Tex­te gele­sen: das gab ihnen die Mög­lich­keit, sich ein­an­der noch in schroffs­ter Geg­ner­schaft auf gemein­sa­mer Basis ver­ständ­lich zu machen.«


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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