Essay

Pluralismus ja – aber wie kann man mit Terroristen reden?

Eine Analyse von Werten und Argumenten

Von Klaus Kornwachs


Cum prin­ci­pia negan­te non est dis­pu­t­an­dum[1]

1 Vor­re­de

Wird über »Wer­te« dis­ku­tiert, hören wir die­sen Begriff zusam­men mit Spe­zi­fi­ka­tio­nen wie: »unse­re Wer­te«, »west­li­che Wer­te«, »Wer­te einer euro­päi­schen Leit­kul­tur« oder gar »christ­li­che Wer­te« etc. Die­ser spe­zi­fi­zie­ren­de Gebrauch unter­stellt, dass es auch noch ande­re Wer­te, also nicht-euro­päi­sche, nicht-christ­li­che, nicht-west­li­che Wer­te gebe und sich die »Ande­ren«, wer immer sie auch sein mögen, nicht an unser Wer­te, son­dern an ande­re Wer­te hal­ten würden.

Wenn man danach fragt, wel­ches denn die­se Wer­te expli­zit sind, dann beginnt das Stot­tern, und oft wird nach einem gewis­sen Zögern das genannt, was eigent­lich Tugen­den sind, also ver­hal­tens­steu­ern­de Vor­stel­lun­gen für bestimm­te Handlungsweisen.

An die­ser Stel­le soll kei­ne Ethik­ein­füh­rung erfol­gen, aber Tugen­den und Wer­te muss man schon aus­ein­an­der hal­ten. Fleiß, Pünkt­lich­keit, Sau­ber­keit, Ordent­lich­keit sind höchs­tens Tugen­den, viel­leicht sogar typisch deut­sche, aber noch kei­ne Wer­te. Man spricht gele­gent­lich sogar von Sekun­där­tu­gen­den. Aris­to­te­les hat in sei­ner »Niko­ma­chi­schen Ethik« den Tugen­den viel Raum in sei­nem Den­ken gege­ben, er begriff Tugen­den als Hal­tun­gen, die sich in der Mit­te zwi­schen zwei extre­men Hal­tun­gen oder Hand­lungs­wei­sen anord­nen las­sen. So liegt die Tap­fer­keit zwi­schen Toll­kühn­heit und Feig­heit, die Mäßi­gung ist die Mit­te zwi­schen Wol­lust und Stumpf­heit, und der Groß­zü­gi­ge ist weder ein Ver­schwen­der noch ein Geiz­hals.[2]

Indi­vi­dua­li­tät, Wis­sen, Reli­gi­on, Bil­dung, Iden­ti­tät, Pres­se­frei­heit, Scham, sozia­les Enga­ge­ment, Wür­de, Auto­no­mie, Sub­si­dia­ri­tät, Frei­heit, Plu­ra­lis­mus, Asyl­recht und offe­ne Gesell­schaft – sind das nun Wer­te oder Tugenden?

Wir spre­chen über Wer­te. Die klas­si­sche Quel­le der Ent­ste­hung von Wer­te­vor­stel­lun­gen sind: Erfah­rung von Bedürf­nis­sen, reli­gi­ös offen­bar­ten Vor­stel­lun­gen, Bestim­mun­gen einer phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie, Theo­rien über Evo­lu­ti­on und Gesell­schaft, Geschich­te und Poli­tik und seit der moder­nen Ethik im 20. Jahr­hun­dert Ein­sich­ten, die sich in Dis­kur­sen als zustim­mungs­fä­hig erwei­sen. Aus der Viel­falt die­ser Quel­len lässt sich auch die Viel­falt der Begrün­dun­gen für Wer­te erschlie­ßen. Sie sind so viel­fäl­tig wie die Phi­lo­so­phie selbst.

Es geht um Plu­ra­lis­mus. Wenn der Begriff »Plu­ra­lis­mus« als ein Wert begrif­fen wer­den soll, muss er in ein Sys­tem von Wer­ten ein­ge­ord­net wer­den kön­nen. Nun kann man expli­zi­te Wer­te­sys­te­me nicht all­zu häu­fig in der Lite­ra­tur fin­den, weil eine »mate­ria­le Wert­ethik«[3], wie Max Sche­ler sie nann­te, auf mas­si­ve Kri­tik in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts gesto­ßen ist und sich danach kaum mehr ein Phi­lo­soph getraut hat, Wer­te­sys­te­me vorzuschlagen.

Es muss­ten schon die inter­dis­zi­pli­nä­ren Her­aus­for­de­run­gen des phi­lo­so­phi­schen Nach­den­kens über Tech­nik sein, dass sich ein Gre­mi­um aus Phi­lo­so­phen und Inge­nieu­ren ermu­tigt sah, zum Zwe­cke der Tech­nik­be­wer­tung ein Wer­te­sys­tem vor­zu­schla­gen, das als Wer­teok­to­gon in die Lite­ra­tur ein­ge­gan­gen ist. Es sind dies expli­zit (kur­siv gesetzt, in nicht wer­ten­der Rei­hen­fol­ge):[4]

Wirt­schaft­lich­keit – dies impli­ziert Vor­stel­lun­gen von Gewinn, Wachs­tum und Eigentum,
Gemein­wohl umfasst sowohl öffent­li­che und wirt­schaft­li­che Wohl­fahrt wie Rechtsstaatlichkeit,
Qua­li­tät des gesell­schaft­li­chen Lebens impli­ziert die Wer­te Frei­heit, Gleich­heit, Soli­da­ri­tät, Men­schen­rech­te, welt­an­schau­li­che Neu­tra­li­tät und damit Pluralismus,
Zuver­läs­sig­keit von Tech­nik, Orga­ni­sa­ti­on und Struk­tu­ren ermög­li­chen die Wer­te der sitt­li­chen Kon­ven­tio­na­li­tät und Solidarität,
Sicher­heit[5] impli­ziert Unversehrtheit,
Gesund­heit umfasst Anrech­te auf Hil­fe und Ver­sor­gung und ermög­licht eine ent­spre­chen­de Solidargemeinschaft,
Umwelt­schutz als Wert kon­kre­ti­siert sich im Wert der Nachhaltigkeit,
Ent­fal­tung per­sön­li­cher Lebens­qua­li­tät impli­ziert bür­ger­li­che Frei­hei­ten und Rech­te, sowie die bekann­ten kom­sum­ti­ven Frei­hei­ten und Rechte.

Hin­zu kamen in einer spä­te­ren Dis­kus­si­on[6]
Feh­ler­freund­lich­keit ermög­licht die Rever­si­bi­li­tät von Ent­schei­dun­gen, von Novel­lie­rung von Geset­zen, Rück­nah­me von Tech­no­lo­gien bis hin zum Gedan­ken der Resozialisierung,
Sta­bi­li­tät der Bedin­gun­gen des Han­delns ver­weist gesell­schaft­lich auf demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung, Gewal­ten­tei­lung und Gewalt­mo­no­pol des Staates.

Die Dis­kus­sio­nen dre­hen sich meist nicht um die­se Wer­te, die als erstre­bens­wer­te Leit­vor­stel­lun­gen all­ge­mein als zustim­mungs­fä­hig ange­se­hen wer­den, son­dern um die Prio­ri­tä­ten: Wel­cher die­ser Wert steht in einem Wer­te­sys­tem an obers­ter Stel­le? Alle die genann­ten Wer­te[7] ste­hen in kon­flik­tä­rem Ver­hält­nis zuein­an­der – die gleich­zei­ti­ge Erfül­lung aller Anfor­de­run­gen, die sich aus den Wer­ten erge­ben, ist nicht mög­lich. Also muss man Prio­ri­tä­re set­zen – wie es so schön heißt. Die Fra­ge ist jedoch, ob die­se Prio­ri­tä­ten­set­zung kon­stant blei­ben muss. Die per­sön­li­che Lebens­er­fah­rung legt nahe, dass man mit 20 Jah­ren ande­re Prio­ri­tä­ten in sei­nem Wer­te­sys­tem setzt als dies mit 60 Jah­ren der Fall ist.

Der Wert Plu­ra­lis­mus bezieht sich, wenn man ihn gesell­schaft­lich deu­tet, auf die fried­lich geleb­te Koexis­tenz ver­schie­de­ner Lebens­sti­le, Bekennt­nis­se und kul­tu­rel­ler Spe­zi­fi­ka in ein und der­sel­ben Gesell­schaft. Eine sol­che Gesell­schaft könn­te man auch offe­ne Gesell­schaft nen­nen. Walt­her Zim­mer­li hat mit sei­nem »Dis­sen­ser­mög­li­chungs-plu­ra­lis­mus«, einen etwas sper­ri­gen Begriff ein­ge­führt, der sich dar­auf bezieht, dass man sich nur dann einig sein kann, uneins zu sein, wenn man das Sich-nicht-einig-sein gegen­sei­tig aus­hal­ten kann. Damit wird die­ser Plu­ra­lis­mus, der Ver­schie­den­heit bewusst macht, eine der not­wen­di­gen Bedin­gun­gen, um in offe­nen Gesell­schaf­ten kom­mu­ni­zie­ren ver­ant­wort­lich han­deln zu kön­nen (Zim­mer­li 1994). Unnö­tig zu sagen, dass die­se Bedin­gung im poli­ti­sche Tages­ge­schäft zuwei­len schwie­rig zu erfül­len ist. Noch unnö­ti­ger zusa­gen, dass der Begriff des Plu­ra­lis­mus an sei­ne Gren­zen stößt bei der mitt­ler­wei­le all­täg­li­chen Bedro­hung durch den Ter­ro­ris­mus als einer Form der glo­ba­len poli­ti­schen, reli­giö­sen und zwei­fels­oh­ne auch wirt­schaft­li­chen Auseinandersetzung.

So trau­rig das The­ma auch sein mag – Phi­lo­so­phie hat die Auf­ga­be, sol­che Gren­zen aus­zu­lo­ten. Dies soll als Anre­gung ver­sucht wer­den. Der Titel unter­stellt, dass es viel­leicht zwin­gen­de Argu­men­te gegen­über Ter­ro­ris­ten und damit – ange­nom­me­ner Wei­se – gegen fun­da­men­ta­lis­ti­sches Den­ken geben könn­te.[8] Wir könn­ten auch fra­gen, ob Argu­men­te über­haupt Ter­ro­ris­ten zu beein­dru­cken ver­mö­gen. Die all­ge­mei­ne Ansicht dürf­te lau­ten: Nein.[9]

Das The­ma soll in drei Schrit­ten ent­fal­tet wer­den. Ers­tens müs­sen wir uns fra­gen, wie wir Plu­ra­lis­mus als mög­lich den­ken kön­nen, wenn man unse­re »Inter­es­sen« betrach­tet, also die der Bewoh­ner eines Indus­trie­staa­tes. Dann ana­ly­sie­ren wir die rela­ti­vie­ren­de Paro­le: »Dein Ter­ro­rist – mein Frei­heits­kämp­fer.« Sie wird sich als falsch erwei­sen, beson­ders dann, wenn wir die Grün­de des Ter­ro­ris­mus von den Grün­den der Ter­ro­ris­ten als Per­so­nen unter­schei­den. Unter Grün­den sind hier nicht die Ursa­chen, son­dern die Begrün­dungs­fi­gu­ren und Moti­ve gemeint, die von den ter­ro­ris­ti­schen Grup­pen einer­seits und den Ter­ro­ris­ten als Ein­zel­per­son ver­wen­det wer­den. Drit­tens wer­den an die­sen Grün­den mög­li­che Argu­men­te anset­zen müs­sen – es geht letzt­lich um die Bedin­gun­gen, unter denen eine Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Ter­ro­ris­ten in Gang kom­men könnte.

  1. [1] »Mit jeman­den, der kei­ne Prin­zi­pi­en hat, kann man nicht dis­ku­tie­ren.« Scho­las­ti­scher Merk­spruch, der sinn­ge­mäß auf Tho­mas von Aquin zurück­geht; vgl. Tho­mas von Aquin: Sum­ma Theo­lo­giae, I. Ques­tio 1, art 8, 1; in Tho­mas (1985), S. 15. 
  2. [2] vgl. Aris­to­te­les: Niko­ma­chi­sche Ethik, II Buch, 1107a ff. Wei­ter Dis­kus­si­on in Buch III. Vgl. Aris­to­te­les (1983), S.46 und 54 ff. Soge­nann­te heu­ti­ge bür­ger­li­che Tugen­den sind bei­spiels­wei­se: Ord­nung, Spar­sam­keit, Rein­lich­keit, Pünkt­lich­keit, Höf­lich­keit, Fleiß. Phi­lo­so­phi­sche Tugen­den sind eher: Fleiß, Tap­fer­keit, Beson­nen­heit, Gelas­sen­heit, Beschei­den­heit, Wahr­haf­tig­keit, Treue, Ver­trau­en, Gerech­tig­keit. »Unbür­ger­li­che« Tugen­den, die seit den 68er Jah­ren eine gewis­se Wert­schät­zung erlangt haben, sind z. B. Unmit­tel­bar­keit, Ursprüng­lich­keit, Leben­dig­keit, Unbe­dingt­heit, ggf. Spon­ta­nei­tät etc. 
  3. [3] Max Sche­ler (1954) unter­schied zwi­schen Wert­krei­sen des Ange­neh­men, des Edlen, der Schön­heit, des Rechts, der Erkennt­nis der Wahr­heit und des Hei­li­gen. Für Sche­ler war die Emo­tio­na­li­tät vor­gän­gig. Nach Sche­ler kann die hier­ar­chi­sche Ord­nung der Wer­te als Prio­ri­täts­re­la­ti­on auf den Wer­ten a prio­ri erkannt wer­den (cf. Sche­ler 1954, Vol. 2, p. 10). 
  4. [4] gl. VDI-Richt­li­nie »Tech­nik­be­wer­tung« (1991).
  5. [5] Wobei der deut­sche Begriff »Sicher­heit« den angel­säch­si­schen Unter­schied von »secu­ri­ty« (Bemü­hen um Scha­dens­frei­hei­ten durch äuße­re Ein­flüs­se) und »safe­ty« als Schutz vor einem zu iso­lie­ren­den, schä­di­gen Objekt oder Ereig­nis) nicht expli­zit wiedergibt. 
  6. [6] vgl. Korn­wachs, Nie­mei­er (1991)
  7. [7] denen man durch­aus noch ande­re hin­zu­ge­sel­len könn­te wie: Leben, Ehre, Ruhm, Wahr­heit, Lie­be, Ver­trau­en, Schönheit. 
  8. [8] Schlei­chert (2001) hat schon früh den Ver­such unter­nom­men, fun­da­men­ta­lis­ti­sche Argu­men­ta­ti­ons­wei­sen zu typi­sie­ren und geht dabei von der klas­si­schen Rhe­to­rik­leh­re aus. Der vor­lie­gen­de Bei­trag konn­te Schlei­cherts Buch lei­der nicht mehr berücksichtigen. 
  9. [9] Die Grund­la­ge zu die­sem Bei­trag ent­stand noch vor der Ter­ror­at­ta­cke in Paris am 13. Novem­ber 2015. Sie geht auf einen Vor­trag zurück, der auf einem Fest­kol­lo­qui­um zu Ehren von Prof. Walt­her Ch. Zim­mer­li am 5. Mai 2015 an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät gehal­ten wur­de. Der vor­lie­gen­de Text ist eine Über­ar­bei­tung und ori­en­tiert sich an einem Vor­trag in Kon­stanz vom 13. Juni 2016. 

Ausgabe Nr. 10, Frühjahr 2017

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