Ich möch­te nun heu­te aus dem prot­ago­rei­schen Modell etwas ande­re Kon­se­quen­zen zie­hen. Sie set­zen bei den bei­den Sen­dun­gen an, die Her­mes in Zeus’ Auf­trag den Men­schen brach­te, und kon­zen­trie­ren sich dabei auf die schwe­rer Fass­ba­re von den bei­den, auf Aidós. Denn wäh­rend Inhalt und Wirk­sam­keit Díkes kei­ne Rät­sel auf­gibt, ist die For­schung über die Bedeu­tung von Aidós bis heu­te zu kei­nem ein­heit­li­chen Ergeb­nis gelangt. Díke ist mytho­lo­gisch die gött­li­che Gerech­tig­keit, von ihr gehen Gehalt und Spra­che des grie­chi­schen Rechts­den­kens aus, sie ist also Sache des Logos, auch wenn ihre Pra­xis dar­in natür­lich nicht gänz­lich auf­geht. Aidós aber, ich habe schon dar­auf­hin­ge­wie­sen, steht für einen »gewaltige(n) Begriffs­um­fang«, wie das »His­to­ri­sche Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie« urteilt. Ein Umfang, in dem aber, mei­ne ich, der rhe­to­ri­sche Blick Klar­heit zu schaf­fen ver­mag. Denn wel­che Bedeu­tung oder Nuan­ce man immer ins Tref­fen führt (ob Ehr­furcht oder Respekt, Ver­eh­rung oder Bewun­de­rung, Mit­leid oder Freund­lich­keit, Ent­rüs­tung oder Scham, um nur weni­ge zu nen­nen) – es han­delt sich immer um eine affek­ti­sche Dis­po­si­ti­on. Ganz offen­sicht­lich fass­te Prot­agoras damit die sozia­len Bin­de­kräf­te des Gefühls in ihrer gan­zen Viel­heit zusam­men, die er für die Grün­dung und Sta­bi­li­tät mensch­li­cher, staat­li­cher Gemein­schaft für eben­so wich­tig hielt, wie das recht­li­che Den­ken. In sei­nem Mythos läßt er Her­mes des All­va­ter Zeus fra­gen, wie er Díke und Aidós unter die Men­schen ver­tei­len soll, aus­ge­wählt wie Küns­te oder Gewer­be, »oder soll ich sie allen geben?« – »Allen, erwi­der­te Zeus, alle sol­len dar­an Anteil haben, denn sonst könn­te kein Gemein­we­sen entstehen …«

Wenn wir nun die mytho­lo­gi­sche Ein­klei­dung als das neh­men, was sie bei einem Den­ker wie Prot­agoras nur sein kann, der jede Aus­sa­ge über die Göt­ter als blo­ße Spe­ku­la­ti­on ablehn­te, wenn wir in ihr also eine rei­ne Gleich­nis­re­de sehen, stel­len wir über­rascht fest, dass am Beginn anthro­po­lo­gi­schen Den­kens schon die natür­li­chen Kon­stan­ten des Mensch­seins im Zusam­men­hang mit ihren Kul­tur­for­men, den For­men gemein­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens gedacht wer­den. Logos und Pathos (die Grie­chen kann­ten kei­nen ande­ren Aus­druck für die Affek­te als Pathos) ste­hen als natür­li­che Bedin­gun­gen hin­ter Díke und Aidós, die ihrer­seits deren his­to­risch und kul­tu­rell bedeu­tends­te Aus­prä­gun­gen formulieren.

Ein wei­te­rer für uns wich­ti­ger Gesichts­punkt zeigt sich dar­in, dass hier ein erfah­re­ner Red­ner sei­ne empi­risch gewon­ne­nen Erkennt­nis­se im Gleich­nis ver­dich­tet und ver­deut­licht, sich also dabei natur­ge­mäß auf Lebens­er­fah­rung und Men­schen­kennt­nis bezieht. Anthro­po­lo­gi­sche und rhe­to­ri­sche Per­spek­ti­ve über­blen­den sich, in bei­den domi­niert das Inter­es­se am gan­zen Men­schen: einer­seits was das Wis­sen um den spe­zi­fisch mensch­li­chen Zustand betrifft, ande­rer­seits was die rhe­to­ri­schen Kon­se­quen­zen angeht, die sich dar­aus erge­ben. Bei­de haben einen gemein­sa­men Flucht­punkt: das gelin­gen­de Leben in der Polis, das ver­fehlt wird, wenn die Schu­le poli­ti­scher Tugend und prak­ti­scher Bür­ger­lich­keit, als die Prot­agoras die Rhe­to­rik auf­ge­fasst wis­sen woll­te, sich nicht ihrer anthro­po­lo­gi­schen Grund­la­gen in aller Brei­te bewusst bleibt.

Um noch ein letz­tes Mal auf Prot­agoras’ urge­schicht­li­che Erzäh­lung zu spre­chen zu kom­men, so zeugt es von der Klar­heit des Sophis­ten, dass er für die affek­ti­sche Sei­te des mensch­li­chen Gemein­schafts­we­sens eine so unkla­re, näm­lich viel­deu­ti­ge Bezeich­nung wähl­te, denn er ver­fiel damit nicht in den Feh­ler, den Nietz­sche ein­mal denun­zier­te, das heißt »die Affek­te uns (…) denk­bar (zu) machen, d. h. sie (zu) leug­nen und als Irr­tü­mer des Intel­lekts (zu) behan­deln.« Dass genau die­ses gesche­hen wür­de, hat der Autor des Homo-men­su­ra-Sat­zes frei­lich auch durch sei­ne schöp­fe­ri­sche Unklar­heit nicht ver­hin­dern kön­nen. Wobei ich aber gleich hin­zu set­zen möch­te, dass auch er sich jeder Gefühls­schwär­me­rei ent­hielt, wenn er auf der Fül­le der Gefüh­le beharrte.

Wir brau­chen nicht lan­ge zu raten, wer die ent­schei­den­de Umkehr im Wer­te­spek­trum anthro­po­lo­gi­scher Grund­an­nah­men mar­kier­te. Es war Pla­ton, der mit sei­nem »päd­ago­gi­schen Intel­lek­tua­lis­mus« (Bloch) die Affek­te zwar als mäch­ti­ge, aber eben des­halb auch ener­gisch zu bekämp­fen­de Stö­ren­frie­de in sei­nem Kon­zept bür­ger­li­cher Bil­dung behan­del­te. Die »größ­ten Köder des Übels« nann­te er sie, die »Ver­trei­ber des Guten« oder »unüber­leg­te Rat­ge­ber« – kurz gesagt: Ihm gal­ten sie als Wider­sa­cher mensch­li­cher Ver­voll­komm­nung und Zufrie­den­heit. Woll­te man wirk­lich die Geschich­te der Phi­lo­so­phie als blo­ße Samm­lung von Fuß­no­ten zum gro­ßen Pla­ton betrach­ten, wie ein etwas törich­tes Dik­tum Alfred Whit­eheads es vor­schlägt, so hät­te man in Bezug auf die phi­lo­so­phi­sche Affekt­dok­trin fast einen über­zeu­gen­den Beleg. Von der Stoa über die mit­tel­al­ter­li­che Sün­den­leh­re bis ins 19. Jahr­hun­dert wirk­te offen­bar der pla­to­ni­sche Bann. Affek­te blie­ben die Krank­hei­ten der See­le, sie haben der Ver­nunft zu gehor­chen, sind direk­ter Aus­fluss der Ursün­de. Wider­ver­nünf­tig erschei­nen sie auch Imma­nu­el Kant, er ver­gleicht sie mit der »Schwind­sucht« und dem »Wahn­sinn«, sieht ein »qua­li­fi­ziert Böses« in ihnen wir­ken. Selbst für Hegel, in des­sen Dia­lek­tik der Geist der Ver­nei­nung eine so durch­drin­gend bewe­gen­de Rol­le spielt und das Zit­tern in Todes­angst für die Herr-Knecht-Bezie­hung von so grund­le­gend ver­än­dern­der Bedeu­tung ist, selbst für die­sen Hegel sind die Lei­den­schaf­ten nur als »List der Ver­nunft gerecht­fer­tigt, die sie »für sich wir­ken läßt«.

Das ist gewiss eine sehr ver­ein­fa­chen­de Ver­dich­tung der phi­lo­so­phi­schen Aben­teu­er des Affekts, doch gibt sie die Rich­tung sei­nes Fahr­pla­nes ziem­lich kor­rekt wie­der. Zwei Sta­tio­nen dar­in habe ich aber bis­her – Sie wer­den es natür­lich gemerkt haben – aus­ge­las­sen: Aris­to­te­les in den Anfän­gen und Nietz­sche zwar nicht am Ende, aber doch an einer spä­ten und weg­wei­sen­den Station.


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