Eben sol­chen aber sug­ge­riert der Begriff des »Irra­tio­na­lis­mus«, ins­be­son­de­re dann, wenn er in die Nach­bar­schaft der Lebens­phi­lo­so­phie des begin­nen­den 20. Jahr­hun­derts gerückt wird, wie Dock­horn es tut, wenn er sich auf Alfred Bäum­ler beruft, eine Adres­se, die ihn hät­te miss­trau­isch machen müs­sen, han­del­te es sich bei ihm doch um den neben Rosen­berg ein­fluß­reichs­ten Ideo­lo­gen des »3. Reichs«, der sei­ne irra­tio­na­lis­ti­sche Sub­jekt­phi­lo­so­phie bruch­los in den Faschis­mus inte­grie­ren konn­te. Die­ser Irra­tio­na­lis­mus ist der Name für die pole­mi­sche Absa­ge an Ver­nunft und Ver­stand und des­halb mit Rhe­to­rik unver­ein­bar, weil er die Berei­che des indi­vi­du­el­len Erle­bens, des indi­vi­du­el­len Gemüts, der ein­zig­ar­ti­gen Gefühls­wahr­heit als unzu­gäng­lich jeder ver­nünf­ti­gen Ein­re­de, jeder über­in­di­vi­du­el­len Gel­tung annimmt und damit rhe­to­ri­schem Über­zeu­gen den Boden ent­zieht. In sei­ner Kon­se­quenz läuft das, mit den Wor­ten des von Sym­pa­thie dafür nicht frei­en Karl Mann­heim, hin­aus auf »eine immer kon­se­quen­ter wer­den­de Aus­mer­zung der libe­ral-ratio­na­len Ele­men­te aus dem nun­mehr bewusst als irra­tio­nal beab­sich­tig­ten Welt­bil­de.« Eine gera­de des­halb hell­sich­ti­ge Dia­gno­se, weil sie poli­ti­schen Fol­gen nicht unbe­ach­tet läßt.

Ich sag­te, Gefüh­le sind wie Mei­nun­gen Vor­schlä­ge, Ent­wür­fe, sie lösen ein Frag­haf­tes in vor­läu­fi­gen, noch fra­gi­len Stel­lung­nah­men, deren Über­zeu­gungs­kraft durch zwei Refe­ren­zen begrün­det wird. Bei­de wei­sen weit in die Anti­ke zurück. Die eine hat auch Kant, und zwar in sei­ner Anthro­po­lo­gie, mar­kiert, indem er dar­auf auf­merk­sam mach­te, dass es immer »die Vor­stel­lung von etwas Künf­ti­gem« ist, wel­ches das affek­ti­ve und lei­den­schaft­li­che Begeh­rens­ver­mö­gen antreibt. Futu­ra con­se­quen­tia, die zukünf­ti­gen Fol­gen sind es, auf die die Affek­te per se zie­len, vom Wünsch­ba­ren oder Befürch­te­ten her gewin­nen sie ihre Ener­gie und Glaub­wür­dig­keit, sie stif­ten den für die Rhe­to­rik bei aller Situa­ti­vi­tät lebens­wich­ti­gen Zukunfts­be­zug, den augen­blick­li­chen Zeit­punkt, sogar den Kai­ros tranz­zen­die­rend. Er bewegt selbst die Gerichts­re­de, die zwar von der Ver­gan­gen­heit einer Tat und ihrer Umstän­de aus­geht, dies aber im Inter­es­se eines noch aus­ste­hen­den Gerichts­spruchs, Urteils und damit der Fol­gen für alle Betei­lig­ten. Anders wäre die jeweils nöti­ge »Bele­bung des Wil­lens« beim Adres­sa­ten nicht zu errei­chen, die Rede blie­be im empi­ri­schen Auf­wei­sen, im Zei­ge­ges­tus wir­kungs­los stecken.

Was aber macht die Gefüh­le der ein­zel­nen Bür­ger nun auch ver­gleich­bar und damit erst ver­ständ­lich? Die Ant­wort über­rascht und ent­täuscht: Wir wis­sen es näm­lich nicht. Was umso para­do­xer wir­ken mag, als wir stän­dig han­deln und leben, als ob wir es wüss­ten. Wenn wir uns ängs­ti­gen, erwar­ten wir Mit­ge­fühl (Angst steckt auch an, so sagen wir mit einer All­ge­mei­n­er­fah­rung), wenn wir uns freu­en, wol­len wir, dass auch ande­re sich mit uns freu­en, auch Freu­de ist eben anste­ckend. Für die­ses merk­wür­di­ge Phä­no­men des indi­vi­du­el­len Gefühls, das von Erfah­run­gen aus­geht, die eigent­lich nur ich allei­ne auf­zu­wei­sen habe (wes­halb ja die Lebens­phi­lo­so­phie das als uner­gründ­li­ches Geheim­nis hypo­sta­sier­te), für die­ses offen­bar irre­du­zi­ble Wesen hat Prot­agoras zur Erklä­rung einen Mythos und die Rhe­to­rik ins­ge­samt einen »Sinn« erfun­den, des­sen wir uns selbst­ver­ständ­lich bedie­nen, dem aber kein Organ zuzu­ord­nen ist, auch wenn wir sei­ne Wir­kung ken­nen. »Ursa­chen­bä­ren« hat Lich­ten­berg den Men­schen genannt, um sei­nen Eifer, nach Ursprün­gen zu suchen, wo Wir­kun­gen genü­gen, zu kari­kie­ren. Blu­men­berg hat es nicht anders gese­hen: »Die Anti­the­se von Wahr­heit (also hier: was ist die­ser »Sinn« in Wahr­heit) und Wir­kung ist ober­fläch­lich, denn die rhe­to­ri­sche Wir­kung ist nicht die wähl­ba­re Alter­na­ti­ve zu einer Ein­sicht, die man auch haben könn­te, son­dern zu der Evi­denz, die man nicht oder noch nicht, jeden­falls hier und jetzt nicht, haben kann.«

Das gilt all­ge­mein und im beson­de­ren für jenen Sinn, der rhe­to­risch »sen­sus com­mu­nis« genannt wird und der für unse­re Gefühls­grün­de die­sel­be Funk­ti­on hat, wie die »wahr­schein­li­chen Sät­ze«, die es nach Aris­to­te­les braucht, damit wir »über jedes auf­ge­stell­te Pro­blem (…) Schlüs­se bil­den kön­nen«, also mit ande­ren, mit Cice­ros Wor­ten, »einen ang­zwei­fel­ten Sach­ver­halt absi­chern«. Um die Zuver­läs­sig­keit unse­rer Gefühls­ein­stel­lung zu prü­fen und damit ihre all­ge­mei­ne oder auf ein beson­de­res Publi­kum bezo­ge­ne Wir­kung in Rech­nung stel­len zu kön­nen, bezie­he ich mich auf Gemein­ge­füh­le. Aris­to­te­les hat sie in einer Top­ik zusam­men­ge­stellt, ohne Voll­stän­dig­keit zu bean­spru­chen – schließ­lich sind sie trotz tem­po­rä­rer All­ge­mein­gül­tig­keit his­to­risch und kul­tu­rell varia­bel, damit offen. Das Schluß­wort zu die­sem wei­ten Feld der Gefühls­re­de aber mag Nietz­sche für mich for­mu­lie­ren: »Nach­träg­lich, in lan­ger Gewöh­nung, sind gewis­se Vor­gän­ge und Gemein­ge­füh­le sich so regel­mä­ßig ver­bun­den, dass der Anblick gewis­ser Vor­gän­ge jenen Zustand des Gemein­ge­fühls her­vor­bringt und spe­zi­ell irgend­je­ne Blut­stau­ung, Samen­er­zeu­gung usw. mit sich bringt: also durch die Nach­bar­schaft. ›Der Affekt wird erregt‹, sagen wir dann.«


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