1 War­um die Evi­denz des Visu­el­len nicht als Argu­ment taugt – zehn Thesen

1. Das Visu­el­le für sich genom­men schafft kein Argu­men­te, es kann aber – wenn es sich zur Ver­bal­spra­che gesellt – Argu­men­te stützen.

2. Argu­men­ta­tio­nen sind ver­bal­sprach­li­che Kon­struk­te, die gram­ma­tisch for­mu­liert sind. Das Visu­el­le ist ungrammatisch.

3. Argu­men­ta­tio­nen sind ratio­na­le ver­bal­sprach­li­che Kon­struk­te, die noch jen­seits des logisch Ent­scheid­ba­ren die ver­nünf­ti­ge, fol­ge­rich­ti­ge For­mu­lie­rung von Über­zeu­gun­gen und einen abwä­gen­den Dis­kurs gestat­ten, also an den Logos appel­lie­ren, und zwar – und das ist von Bedeu­tung – in Fra­gen, die strit­tig sind. Das Visu­el­le eröff­net nicht pri­mär die Mög­lich­keit, an den Logos, wohl aber an Ethos und Pathos zu appellieren.

4. Argu­men­te erhe­ben Ansprü­che auf Gel­tung und hin und wie­der auch auf »Wahr­heit«[2] Der­lei Ansprü­che kön­nen visu­el­le Akte nicht erhe­ben, sie kön­nen aber »Bedeu­tung« haben. Dies scheint der Tat­sa­che ent­ge­gen­zu­ste­hen, dass Bil­der, ins­be­son­de­re Foto­gra­fien als »Beweis­mit­tel« ein­ge­setzt wer­den (dazu unten mehr). Die Beweis­füh­rung erfolgt jedoch ver­bal­sprach­lich, nicht visu­ell; will sagen: Bil­der gewin­nen ihre inter­sub­jek­ti­ve Bedeu­tung durch einen Deu­tungs­vor­gang, der an die Ver­bal­spra­che gebun­den ist.

5. Nach der Wahr­neh­mung eines Zei­chen­ak­tes ent­steht eine gleich­sam »argu­men­ta­ti­ve Gel­tung« nur über eine inter­sub­jek­ti­ve Inter­pre­ta­ti­ons­ab­stim­mung, die an die Ver­bal­spra­che gebun­den ist. (Soll die­se inter­sub­jek­ti­ve Inter­pre­ta­ti­ons­ab­stim­mung nicht-ver­bal, bild­lich ermög­licht wer­den, dann müss­te es gene­rell mög­lich sein, allein mit Bil­dern Bil­der zu erläu­tern, abzu­wä­gen, zu wider­le­gen etc.)

6. Im ide­al­ty­pi­schen Dis­kurs über Strit­ti­ges erschlie­ßen sich die Gel­tungs­an­sprü­che von Argu­men­ten durch die Klar­heit, Deut­lich­keit, Ver­ständ­lich­keit ihrer For­mu­lie­rung; sie müs­sen also nicht oder nur­mehr in gerin­gem Maße gedeu­tet wer­den. Das Visu­el­le »spricht sich nicht aus, son­dern spricht an«, es öff­net – trotz sei­ner grö­ße­ren Unmit­tel­bar­keit – in der Regel einen wei­te­ren Interpretationsraum.

7. Ange­sichts einer sich ver­än­dern­den Dis­kurs­kul­tur wer­den Argu­men­ten, also ver­bal­sprach­li­chen Äuße­run­gen, Sprech­ak­ten, häu­fig visu­el­le Äuße­run­gen, Zei­chen­ak­te, bei­gestellt. Sie haben eine sti­lis­ti­sche Funk­ti­on, näm­lich die Ver­stär­kung der Evi­denz durch eine Wech­sel­wir­kung von sprach­li­cher Ein­deu­tig­keit und bild­li­cher Mehrdeutigkeit.