8. Die Evidenz – hier rhetorisch aufgefasst als Deutlichkeit, Klarheit (lat. perspicuitas)– ist eine stilistische Anforderungen, der sich Argumente gewachsen zeigen müssen, wenn sie persuasiv sein wollen. Die Evidenz des Visuellen ist stilistisch das Anschauliche, das der Klarheit der Sprache eine Verstärkung durch Unmittelbarkeit zukommen lassen kann. Treten Verbal- und Zeichensprache gelungen, angemessen in Wechselwirkung, so wird die Verständlichkeit einer Argumentation erhöht, sie wirkt unmittelbarer und verdichtet. Evidenz selbst ist aber noch kein Argument. Auch dass sich etwas zeigt, unmittelbar, ist noch nicht ein Argument, kann aber als Stütze für eine Argumentation herangezogen werden.
9. Wollen wir für unsere Diskurskultur im Wandel weiterhin den Nutzen ziehen aus linearer, verbalsprachlicher, sich an Geltungsansprüchen orientierender Argumentation, so müssen wir Wege finden, zu einem tieferen Verständnis der Wirkung des Visuellen, auch in seiner Wechselwirkung mit Gesprochenem und Geschriebenem, zu kommen.
10. Eine Argumentationslehre des Visuellen müsste auf die Basis einer visuellrhetorischen Wirkungsforschung gestellt werden, die Erkenntnisse liefern kann über die Wirksamkeit und Steuerbarkeit des Visuellen im rhetorischen Akt; dabei käme der Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Bild und Text besondere Bedeutung zu.
2 Beispiele gegen die »Beweiskraft visueller Argumente«
Soweit meine zehn Thesen zu der Frage, ob Evidenz des Visuellen als Argument taugt. Um diese Gedanken anschaulich (!) werden zu lassen, betrachte (!) ich ein paar Beispiele. Ähnliche Beispiele werden gern für die »Beweiskraft visueller Argumente« angeführt.
Beispiel 1: Wenn eine Röntgenaufnahme zeigt, dass der Arm eines Patienten gebrochen ist, so ist das tatsächlich ein Beleg für die Annahme »Der Arm ist gebrochen«. Sollte das zuvor unter den behandelten Ärzten strittig gewesen sein, so kann die Röntgenaufnahme als ein »Beweisbild« dienen – wenn das genau so formuliert wird. Womöglich muss es unter den Ärzten noch nicht einmal zu einem Sprechakt kommen, weil die Deutung der Röntgenaufnahme für den geschulten Mediziner auf der Hand liegt, evident ist. Sie sind verbalsprachlich so (in ihrem Technolekt) sozialisiert, dass alles Strittige nun erledigt ist. Der Deutungshorizont, das Vorverständnis – ein Bestand von Argumenten, die irgendwann einmal ausgesprochen und akzeptiert wurden und als unstrittig fürderhin vorausgesetzt werden – wird geteilt, wir sind nicht im Bereich des Strittigen, wo Argumente abgewogen werden. Ist etwas strittig, so meine These, so muss ein gemeinsamer Deutungshorizont erst geschaffen werden; in diesem Zusammenhang können Bilder helfen, sind aber zu erläutern: Sage ich, wie sie gedeutet werden sollen, können sie für meine Argumentation stützend herangezogen werden, sie ersetzen aber nicht das Verbalsprachliche, sie brauchen seine deutende Begleitung oder den Bezug auf ein bereits geteiltes Vorverständnis.
Viele sogenannte Beweisfotos zeigen nicht das, was sie beweisen sollen. Sie zeigen, dass wir uns darauf verständigt haben, in ihnen das sehen zu wollen, wofür sie unserer kulturellen Konvention entsprechend stehen. Das klingt kompliziert, lässt sich aber anhand zweier Beispiele illustrieren: