Beispiel 2: Wenn wir einen Bußgeldbescheid wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit zugestellt bekommen, so liegt ihm oft ein »Beweisfoto« bei: Darauf können wir uns, trotz der Verzerrung und Unschärfe, die diese Bilder meist kennzeichnet, mit etwas guten Willen selbst erkennen, eine Textinformation zeigt die in diesem Augenblick gemessene Geschwindigkeit an. Auf dem Bild ist nicht zu sehen, dass wir zu schnell fahren; es ist noch nicht einmal klar zu erkennen, dass wir uns in einem Auto befinden; und sollten unsere Hände, ein Lenkrad haltend, zu sehen sein, so ist daraus nicht der Schluss zwingend abzuleiten, wir säßen in einem Auto (es könnte sich um das Lenkrad eines Bootes oder eines Boxautos oder eben nur um demontiertes Lenkrad handeln). Wir akzeptieren dieses Foto aber als Beweis dafür, dass wir zu schnell gefahren sind. Warum? Weil wir der Staatsmacht im Allgemeinen und der Polizei im Speziellen, zumindest in dieser Sache aber, vertrauen; weil wir ein Vorverständnis teilen, dass diese Auslegung der Fotografie sozial bestimmt; weil wir wissen, dass ein Widerspruch noch mehr Verdruss macht als das Überweisen des Bußgeldes o. ä. Wir sind uns sicher genug, dass das Foto eine ganze Reihe von Konventionen berechtigt voraussetzt, die wir teilen und die wir in das Foto hineinlegen.
Beispiel 3: Sehen wir Fotografien von der Erde, die aus dem Weltall aufgenommen worden sind, so sind wir in der Regel bereit, der Schlussfolgerung zuzustimmen, die Erde sei eine Kugel. Dies können wir nur dann und deshalb tun, wenn wir eine Reihe von Annahmen und Konventionen zustimmen: dass es möglich ist, ins Weltall zu fliegen und von dort aus zu fotografieren (eine Annahme, die nicht alle Menschen teilen); dass das antike Weltbild, die Erde sei eine Scheibe, zurecht abgelöst worden ist von dem Weltbild, die Erde sei eine Kugel; dass Fotografien als zweidimensionale Darstellung Dreidimensionalität einfangen können u. ä. Hätten wir beispielsweise nicht gelernt, in Fotografien Abbildungen des Dreidimensionalen zu sehen, so könnten wir aus der Fotografie des Erdballs eher schließen, die Erde sei eine Scheibe. Uns erscheint das zwar als absurd, aber womöglich drückt sich dadurch nur aus, »daß wir keine Möglichkeit haben, uns außerhalb der diversen Vokabulare in unserem Gebrauch zu stellen«[3] Die Fotografie der Erde aus dem Weltall »beweist« also nicht, das die Erde eine Kugelgestalt hat. Dass wir solch ein Bild so deuten, zeigt nur, wie sehr wir darin geschult sind, Fotografien auf eine bestimmte Weise zu deuten: Wir sehen in diesen zweidimensionalen Bildern Dreidimensionales.
3 Mit Worten Bilder deuten lernen
Wie haben wir diese Art der Bilderdeutung erlernt? Indem wir Bilder guckten und darüber sprachen; die verbale Begleitung des Bilderschauens lehrt das Bilderdeuten. Unsere eigenen Assoziationen, die wir beim Betrachten von Bildern entwickeln, rücken aus unserem privatsprachlichen Vokabular dadurch heraus, dass wir darüber etwas mitteilen: Erst dadurch können wir sie in einem Diskurs intersubjektiv vermitteln. Vorauszusetzen, unsere eigenen Assoziationen seien – ohne verbalsprachliche Begleitung – anderen Menschen ebenso bedeutend, einleuchtend, unmittelbar, intensiv, interessant, spannend und stünden für dasselbe, für ein Argument gar, dürfte oft naiv und manchmal recht riskant sein.
Eine Ironie zum Abschluss: Die Kritiker meiner Überlegungen mögen ihre Widerlegungen bitte ohne Worte und als Argumentation vortragen … Und nun gibt es hoffentlich einiges zu bereden …